078 Tartaros
[Geschrieben im Rahmen des WritingMonth im November 2024]
Eins
Anna kaufte ihren Gartenbedarf immer in der grossen Bautrans – Filiale am Rande des Dorfes. Den Besuch hatte sie zwischen ihrem Yogakurs, der Fahrt zur Mülldeponie und dem Wochenendeinkauf hineingequetscht. Er musste unbedingt heute erledigt werden!
Es war Frühlingsbeginn und sie benötigte dringend ein Insektizid, bevor diese Mistkäfer wieder zu schlüpfen begannen. Die üblichen, biologisch inspirierten Versuche hatten sich als nutzlos erwiesen: Ferment aus Brennnesseln, in Wasser angesetzter Tabak, Kalklösungen, Kaffeesud: alles für die Katz. Der unsichtbare Feind hatte ihr letztes Jahr so viel Kummer bereitet! Unbemerkt überfiel er nächtens die Zweige des Busches, frass sich an den Blättern satt und kehrte tagsüber in den Schutz des Unterholzes zurück. Übrig blieben leer gefressene Stauden, die ihren geliebten Garten verunstalten. Dagegen musste es doch ein Mittel geben!
Sie strebte zur Blumenabteilung und fand das entsprechende Insektizid gleich auf Anhieb. Dem Fund war freilich eine ausgedehnte Recherche im Internet vorausgegangen, die sie zu dieser Marke geführt hatte. Es war ein schweres Chemiegeschütz, doch offenbar gab es keine Alternative. Aber egal, darauf sollte es beim derzeitigen Stand der Umweltzerstörung wohl auch nicht mehr ankommen. Der Garten war ihr in diesem Fall wichtiger. Als sie die Flasche entschlossen aus dem Regal nahm, bemerkte sie in einer Ecke des Regals einen Stapel mit Gutscheinen, die für neuartige Blumensorten warben. Sie stammten von einer ihr unbekannten Gärtnerei. Anna stopfte einige Exemplare in ihre Tasche, bezahlte an der Kasse und verliess in grosser Eile den Markt, um die übrigen Besorgungen zu erledigen.
Zu Hause angekommen, bereitete sie sich eine Tasse Tee, setzte sich an den Küchentisch, strich den zerknitterten Gutschein glatt und setzte die Lesebrille auf. Anna wunderte sich über die unprofessionelle Aufmachung des A5-Blattes. Es zeigte Illustrationen von Pflanzen, die Anna bisher noch nie gesehen hatte. Inmitten der Illustrationen befand sich ein handschriftlich verfasster Text in Schnörkelschrift, im unteren Drittel des Blattes ein Rücksende-Kupon. Er warb mit einem Probesortiment an Samen, das gemeinsam mit einem Düngemittel geliefert werden würde. Zu senden war der Gutschein an ein Postfach, man versprach die Zusendung der Probepackung zum ehest möglichen Zeitpunkt. So geschah es dann auch. Schon nach wenigen Tagen hielt Anna das Samenpaket in Händen. Dem Beipackzettel entnahm sie Folgendes:
Glückwunsch! Sie haben Samen zur Rettung der Welt erhalten! Gezüchtet in einem Betrieb, der ausschliesslich der Permakultur verpflichtet ist, haben wir in einer langjährigen Versuchsreihe diese wunderbare Pflanze entwickelt, die selbst stark verseuchte Böden revitalisiert. Einfache Aussaat und ausgezeichnetes Wachstum sind garantiert! Wenn wir sie mit diesem Produkt überzeugt haben, spenden Sie bitte für die Weiterentwicklung unseres ökologischen Zentrums auf Patreon. Beachten Sie den Beipackzettel und Haftungsausschluss. Gärtnerbetrieb Erleuchtetes Myzel GmbH.
Zwei
Aus dem Lexikon der Klandestinen Flora:
Der Gelbstäbige Auftaucher gehört zur Familie der Wanderpflanzen. Seine Blütenstände öffnen sich als trompetenförmiger, etwa Finger große Stäbe für nur wenige Minuten am Tag, ausreichend Sonnenschein vorausgesetzt. Er ist ein Bodenbrecher mit voluminösem Wurzelkörper, der sich besonders rasch auf stark kontaminierten Böden verbreitet. Vorkommen meist in Familien von bis zu fünfzig Exemplaren. Zieht sich bei kleinsten Erschütterungen oder dem Aufkommen von Wind in den Boden zurück. Unterirdisch verbreitet sich die Pflanze mit großer Geschwindigkeit und erinnert in dieser Hinsicht an das Myzelwachstum von Pilzen. Die Einpflanzung in einen Trog mit funktionierender Wurzelsperre wird daher empfohlen. Die Aussaat erfolgt zwischen März und Juni, die Pflanze ist mehrjährig. Da sie ein Starkzehrer ist, wird besonders in den ersten beiden Monaten nach Aussaat die regelmäßige Gabe einer Wuchshilfe empfohlen.
Wird zur biologischen Reinigung vergifteter Altlagerstätten und zur Bodensanierung verwendet. In der Volksmedizin wurde die Pflanze immer wieder in Zusammenhang mit Heilritualen verwendet. Seitens der Gesundheitsbehörde wird die Wirksamkeit jedoch aufgrund des Fehlens wissenschaftlicher Testreihen immer wieder infrage gestellt. Vor einer Anwendung als Arzneimittel (etwa in Formen von Tee oder Salben) wird dringlichst gewarnt.
Das Vorkommen der Pflanze ist für die nördliche Hemisphäre bezeugt. Sie wächst auf allen Bodensubstraten. Man vermutet, dass seine Entstehung auf eine strukturelle Chromosomenaberration aufgrund von Verstrahlung zurückzuführen ist.
Drei
Anna freute sich, sie war durch die ungewöhnliche Beschreibung in ihrem Lexikon mehr als neugierig geworden. Mehr war über den Auftaucher nicht in Erfahrung zu bringen. Ihr Forscherdrang war damit geweckt. Heilpflanzen waren schon immer ihr Faible gewesen. Es könnte sich wohl um ein Heilkraut von grossem Potenzial handeln, wenn es für die Sanierung von Böden eingesetzt werden könnte. Die warnenden Anmerkungen schlug sie in den Wind. Sie würde auf jeden Fall mit den Wirkungen dieser Pflanze experimentieren wollen. Neben dem Aussäen auf unterschiedlichen Böden, um mehr über die Wachstumsbedingungen herauszufinden, würde sie sich auf die Blüten und Wurzeln konzentrieren. Diese könnte sie zuerst trocknen, dann verräuchern, vielleicht auch zu Tee verarbeiten! Dass die erhaltenen Samenproben kein Gütesiegel trugen, störte sie nicht. Sie fühlte sich stark und erfahren genug, selbst zu entscheiden, was ihr und anderen zuträglich war. Auch die Pandemie hatte sie auf diese Weise gut überstanden: ohne gefährliche Impfungen, durch ausgiebige Spaziergänge und regelmässige Einnahme eines Kräutersirups, der in ihrem Freundeskreis als Geheimwaffe weitergereicht worden war.
Wenn sie nur schon einige Exemplare des Gelbstäbigen Auftauchers in Händen halten könnte! Wie so oft war Anna von solchen Spezereien begeistert. Vielleicht gelang es ihr ja, mit dieser Pflanzer etwas zu entwickeln, das in ihrem Freundeskreis für Begeisterung und Anerkennung sorgen würde. Immerhin hatte sie sich dort bereits einen guten Ruf als Kräuterfrau erarbeitet. Man hörte auf sie, und das tat ihr gut.
In ihrem Notizbuch kritzelte sie neben das Datum:
Auftaucher erhalten: Aussaat im Hochbeet, auf dem Rasen, dem Acker am Harnrain und am Ufer der Murka. Vorschriftsmässig den Dünger mit ausgebracht. Anschliessend ein kurzes Wachstumsritual an allen Pflanzsorten durchgeführt. Traumfänger befestigt. Es fühlt sich gut an!
Vier
Der Pilz wuchs schnell. Anna führte das darauf zurück, dass sie pro Guss die doppelte Menge an Wachstumsbegleiter ausgebracht hatte. Sicher war sicher. Doch sie sah ein, dass sich auch ohne ihre gutgemeinte Übertreibung die Pflanze durch ungewöhnliches Wachstum auszeichnete. Das war wohl die Folge ihrer umsichtigen spirituellen Begleitung. Auch für die Abwehr unheilvoller Energien hatte sie gesorgt, indem sie die selbstgefertigten Traumfänger aus ihrem reichhaltigen Fundus aufgehängt hatte.
Bemerkenswert war auch die Robustheit der Pflanzen. Es schien keine Rolle zu spielen, in welchem Substrat die Pflanze wuchs. Schon nach einem Monat hatten sich an allen Stellen sehr gute Ergebnisse gezeigt. Kleine, knallgelbe Blütenstände erhoben sich überall über der Erdkruste. Der Boden rund um die jungen Pflänzchen zeigte dabei eine Art Muster, so wäre die Erde sorgfältig mit einem kleinen Rechen bearbeitet worden. Kleine Erdfurchen führten weg von den Pflanzen. Es waren die Wurzeln, die sich offenbar knapp unter der Erdoberfläche verbreiteten und eine Art Sternmuster bildeten, aus denen dann die Blütenstände sprossen. Es erinnerte tatsächlich an ein robustes Myzel, das sich noch dazu sehr rasch verbreitete. Kein Wunder, dass die Einrichtung einer Wurzelsperre dringend empfohlen worden war; Anna hatte natürlich in ihrem Garten entsprechend vorgesorgt. Nicht so an den beiden anderen Orten, wo die Pflanzen munter vor sich hin wucherten. Mutter Natur hatte wohl das Recht, sich entsprechend ihrer eigenen Gesetze zu entwickeln. Was ihr noch merkwürdig vorkam: Die Wachstumsfurchen (so nannte sie das Wurzelwerk in ihrem Notizbuch) durchfurchten ohne Mühe auch die den Acker und das Bachufer begleitenden Feldwege, die immerhin aus gewalztem Kies bestanden. Ihre einzige Sorge war, es sich mit den Bauern anzulegen, die mit Argusaugen darüber wachten, dass nicht irgendwelche Ökospinner ihren Grund und Boden verunstalteten. Anna hasste Konflikte, genauso wie sie die Bauernschaft hasste, die sie für die Zerstörung der Natur verantwortlich machte. Mehr aus Sorge um sich selbst denn aus Überzeugung beschloss sie, die wöchentlichen Rituale abzubrechen, um nicht als Täterin ertappt zu werden. Das Jugendstadium der Pflanze war wohl auch schon abgeschlossen, sodass sie keine spirituelle oder materielle Begleitung mehr benötigen würden. Sie konnte der Natur freien Lauf lassen. Nur die Windfänger schaukelten noch einige Zeit im Wind, bis sie von neugierigen Kindern und missmutigen Erwachsenen abgerissen wurden.
Fünf
Ende März überraschte Anna ein schwerer Gichtanfall, der sie zu langen Ruhephasen zwang. Ihre Arthritis kam und ging, wie es ihr gerade passte. Anna war daran so gewöhnt, wie man sich an eine chronische Krankheit gewöhnen konnte. Sie war von balancierter Gelassenheit. Wie immer bei solchen unliebsamen Ereignissen rief sie ihre Freundin an, damit diese sich um den Garten kümmerte und für sie einkaufen ging. Sie versuchte, im Bett liegend zu lesen, schleppte sich mühsam in der Wohnung herum, und ass viel warme Gemüsesuppe. Es würde wieder vorübergehen. Wie immer, wenn sie in ihren Aktivitäten eingeschränkt war, schmiedete sie Pläne. das half ihr, die Schmerzen für eine Weile zu vergessen.
Sie dachte an den Auftaucher. Wenn sein Wachstum so rasch voranging und die Pflanzen so robust waren, dann könnte man sie doch auch anders einsetzen, überlegte Anna. Die Sache mit den Samenbomben hatte sie schon immer fasziniert. Ein wenig Kompost, ein wenig Ton, ein paar Samen, das ganze mit Wasser gemischt, zu Kugeln geformt und im Backofen getrocknet: Fertig war das Guerilla-Werkzeug. Der friedliche Widerstand gegen die fortschreitende Versiegelung ihres Dorfes konnte beginnen. „Wenn Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Das hatte sie schon in ihrer Jugend auf den Strassen gesungen, und auch an die Wände gekritzelt: „Unter dem Pflaster liegt der Strand!“ Orte gab es genug, die bepflanzt werden könnten: die aufgeschütteten Dekorationssteine im des Nachbars Garten, der verödete Kreisel in der Ortsmitte, die schmalen Brachen entlang der Parkplätze im Einkaufszentrum. Nur ertappen durfte man sie sich nicht dabei! Aber da vertraute sie ganz ihrer Findigkeit und dem Schutz durch ihr Alter. Man musste die Bomben ja nicht werfen, sondern konnte sie einfach unauffällig fallen lassen.
Noch eines wollte sie tun, wenn sie wieder auf den Beinen war: Endlich mit ihrer Teezeremonie beginnen. D