Zettelwerk

AlteLeut

[Geschrieben im Rahmen des WritingMonth im November 2024]

Eins

Anna kaufte ihren Gartenbedarf immer in der grossen Bautrans – Filiale am Rande des Dorfes. Den Besuch hatte sie zwischen ihrem Yogakurs, der Fahrt zur Mülldeponie und dem Wochenendeinkauf hineingequetscht. Er musste unbedingt heute erledigt werden!

Es war Frühlingsbeginn und sie benötigte dringend ein Insektizid, bevor diese Mistkäfer wieder zu schlüpfen begannen. Die üblichen, biologisch inspirierten Versuche hatten sich als nutzlos erwiesen: Ferment aus Brennnesseln, in Wasser angesetzter Tabak, Kalklösungen, Kaffeesud: alles für die Katz. Der unsichtbare Feind hatte ihr letztes Jahr so viel Kummer bereitet! Unbemerkt überfiel er nächtens die Zweige des Busches, frass sich an den Blättern satt und kehrte tagsüber in den Schutz des Unterholzes zurück. Übrig blieben leer gefressene Stauden, die ihren geliebten Garten verunstalten. Dagegen musste es doch ein Mittel geben!

Sie strebte zur Blumenabteilung und fand das entsprechende Insektizid gleich auf Anhieb. Dem Fund war freilich eine ausgedehnte Recherche im Internet vorausgegangen, die sie zu dieser Marke geführt hatte. Es war ein schweres Chemiegeschütz, doch offenbar gab es keine Alternative. Aber egal, darauf sollte es beim derzeitigen Stand der Umweltzerstörung wohl auch nicht mehr ankommen. Der Garten war ihr in diesem Fall wichtiger. Als sie die Flasche entschlossen aus dem Regal nahm, bemerkte sie in einer Ecke des Regals einen Stapel mit Gutscheinen, die für neuartige Blumensorten warben. Sie stammten von einer ihr unbekannten Gärtnerei. Anna stopfte einige Exemplare in ihre Tasche, bezahlte an der Kasse und verliess in grosser Eile den Markt, um die übrigen Besorgungen zu erledigen.

Zu Hause angekommen, bereitete sie sich eine Tasse Tee, setzte sich an den Küchentisch, strich den zerknitterten Gutschein glatt und setzte die Lesebrille auf. Anna wunderte sich über die unprofessionelle Aufmachung des A5-Blattes. Es zeigte Illustrationen von Pflanzen, die Anna bisher noch nie gesehen hatte. Inmitten der Illustrationen befand sich ein handschriftlich verfasster Text in Schnörkelschrift, im unteren Drittel des Blattes ein Rücksende-Kupon. Er warb mit einem Probesortiment an Samen, das gemeinsam mit einem Düngemittel geliefert werden würde. Zu senden war der Gutschein an ein Postfach, man versprach die Zusendung der Probepackung zum ehest möglichen Zeitpunkt. So geschah es dann auch. Schon nach wenigen Tagen hielt Anna das Samenpaket in Händen. Dem Beipackzettel entnahm sie Folgendes:

Glückwunsch! Sie haben Samen zur Rettung der Welt erhalten! Gezüchtet in einem Betrieb, der ausschliesslich der Permakultur verpflichtet ist, haben wir in einer langjährigen Versuchsreihe diese wunderbare Pflanze entwickelt, die selbst stark verseuchte Böden revitalisiert. Einfache Aussaat und ausgezeichnetes Wachstum sind garantiert! Wenn wir sie mit diesem Produkt überzeugt haben, spenden Sie bitte für die Weiterentwicklung unseres ökologischen Zentrums auf Patreon. Beachten Sie den Beipackzettel und Haftungsausschluss. Gärtnerbetrieb Erleuchtetes Myzel GmbH.

Zwei

Aus dem Lexikon der Klandestinen Flora:

Der Gelbstäbige Auftaucher gehört zur Familie der Wanderpflanzen. Seine Blütenstände öffnen sich als trompetenförmiger, etwa Finger große Stäbe für nur wenige Minuten am Tag, ausreichend Sonnenschein vorausgesetzt. Er ist ein Bodenbrecher mit voluminösem Wurzelkörper, der sich besonders rasch auf stark kontaminierten Böden verbreitet. Vorkommen meist in Familien von bis zu fünfzig Exemplaren. Zieht sich bei kleinsten Erschütterungen oder dem Aufkommen von Wind in den Boden zurück. Unterirdisch verbreitet sich die Pflanze mit großer Geschwindigkeit und erinnert in dieser Hinsicht an das Myzelwachstum von Pilzen. Die Einpflanzung in einen Trog mit funktionierender Wurzelsperre wird daher empfohlen. Die Aussaat erfolgt zwischen März und Juni, die Pflanze ist mehrjährig. Da sie ein Starkzehrer ist, wird besonders in den ersten beiden Monaten nach Aussaat die regelmäßige Gabe einer Wuchshilfe empfohlen.

Wird zur biologischen Reinigung vergifteter Altlagerstätten und zur Bodensanierung verwendet. In der Volksmedizin wurde die Pflanze immer wieder in Zusammenhang mit Heilritualen verwendet. Seitens der Gesundheitsbehörde wird die Wirksamkeit jedoch aufgrund des Fehlens wissenschaftlicher Testreihen immer wieder infrage gestellt. Vor einer Anwendung als Arzneimittel (etwa in Formen von Tee oder Salben) wird dringlichst gewarnt.

Das Vorkommen der Pflanze ist für die nördliche Hemisphäre bezeugt. Sie wächst auf allen Bodensubstraten. Man vermutet, dass seine Entstehung auf eine strukturelle Chromosomenaberration aufgrund von Verstrahlung zurückzuführen ist.

Drei

Anna freute sich,  sie war durch die ungewöhnliche Beschreibung in ihrem Lexikon mehr als neugierig geworden. Mehr war über den Auftaucher nicht in Erfahrung zu bringen. Ihr Forscherdrang war damit geweckt. Heilpflanzen waren schon immer ihr Faible gewesen. Es könnte sich wohl um ein Heilkraut von grossem Potenzial handeln, wenn es für die Sanierung von Böden eingesetzt werden könnte. Die warnenden Anmerkungen schlug sie in den Wind. Sie würde auf jeden Fall mit den Wirkungen dieser Pflanze experimentieren wollen. Neben dem Aussäen auf unterschiedlichen Böden, um mehr über die Wachstumsbedingungen herauszufinden, würde sie sich auf die Blüten und Wurzeln konzentrieren. Diese könnte sie zuerst trocknen, dann verräuchern, vielleicht auch zu Tee verarbeiten! Dass die erhaltenen Samenproben kein Gütesiegel trugen, störte sie nicht. Sie fühlte sich stark und erfahren genug, selbst zu entscheiden, was ihr und anderen zuträglich war. Auch die Pandemie hatte sie auf diese Weise gut überstanden: ohne gefährliche Impfungen, durch ausgiebige Spaziergänge und regelmässige Einnahme eines Kräutersirups, der in ihrem Freundeskreis als Geheimwaffe weitergereicht worden war.

Wenn sie nur schon einige Exemplare des Gelbstäbigen Auftauchers in Händen halten könnte!  Wie so oft war Anna von solchen Spezereien begeistert. Vielleicht gelang es ihr ja, mit dieser Pflanzer etwas zu entwickeln, das in ihrem Freundeskreis für Begeisterung und Anerkennung sorgen würde. Immerhin hatte sie sich dort bereits einen guten Ruf als Kräuterfrau erarbeitet. Man hörte auf sie, und das tat ihr gut.

In ihrem Notizbuch kritzelte sie neben das Datum:

Auftaucher erhalten: Aussaat im Hochbeet, auf dem Rasen, dem Acker am Harnrain und am Ufer der Murka. Vorschriftsmässig den Dünger mit ausgebracht. Anschliessend ein kurzes Wachstumsritual an allen Pflanzsorten durchgeführt. Traumfänger befestigt. Es fühlt sich gut an!

Vier

Der Pilz wuchs schnell. Anna führte das darauf zurück, dass sie pro Guss die doppelte Menge an Wachstumsbegleiter ausgebracht hatte. Sicher war sicher. Doch sie sah ein, dass sich auch ohne ihre gutgemeinte Übertreibung die Pflanze durch ungewöhnliches Wachstum auszeichnete. Das war wohl die Folge ihrer umsichtigen spirituellen Begleitung. Auch für die Abwehr unheilvoller Energien hatte sie gesorgt, indem sie die selbstgefertigten Traumfänger aus ihrem reichhaltigen Fundus aufgehängt hatte.

Bemerkenswert war auch die Robustheit der Pflanzen. Es schien keine Rolle zu spielen, in welchem Substrat die Pflanze wuchs. Schon nach einem Monat hatten sich an allen Stellen sehr gute Ergebnisse gezeigt. Kleine, knallgelbe Blütenstände erhoben sich überall über der Erdkruste. Der Boden rund um die jungen Pflänzchen zeigte dabei eine Art Muster, so wäre die Erde sorgfältig mit einem kleinen Rechen bearbeitet worden. Kleine Erdfurchen führten weg von den Pflanzen. Es waren die Wurzeln, die sich offenbar knapp unter der Erdoberfläche verbreiteten und eine Art Sternmuster bildeten, aus denen dann die Blütenstände sprossen. Es erinnerte tatsächlich an ein robustes Myzel, das sich noch dazu sehr rasch verbreitete. Kein Wunder, dass die Einrichtung einer Wurzelsperre dringend empfohlen worden war; Anna hatte natürlich in ihrem Garten entsprechend vorgesorgt. Nicht so an den beiden anderen Orten, wo die Pflanzen munter vor sich hin wucherten. Mutter Natur hatte wohl das Recht, sich entsprechend ihrer eigenen Gesetze zu entwickeln. Was ihr noch merkwürdig vorkam: Die Wachstumsfurchen (so nannte sie das Wurzelwerk in ihrem Notizbuch) durchfurchten ohne Mühe auch die den Acker und das Bachufer begleitenden Feldwege, die immerhin aus gewalztem Kies bestanden. Ihre einzige Sorge war, es sich mit den Bauern anzulegen, die mit Argusaugen darüber wachten, dass nicht irgendwelche Ökospinner ihren Grund und Boden verunstalteten. Anna hasste Konflikte, genauso wie sie die Bauernschaft hasste, die sie für die Zerstörung der Natur verantwortlich machte. Mehr aus Sorge um sich selbst denn aus Überzeugung beschloss sie, die wöchentlichen Rituale abzubrechen, um nicht als Täterin ertappt zu werden. Das Jugendstadium der Pflanze war wohl auch schon abgeschlossen, sodass sie keine spirituelle oder materielle Begleitung mehr benötigen würden. Sie konnte der Natur freien Lauf lassen. Nur die Windfänger schaukelten noch einige Zeit im Wind, bis sie von neugierigen Kindern und missmutigen Erwachsenen abgerissen wurden.

Fünf

Ende März überraschte Anna ein schwerer Gichtanfall, der sie zu langen Ruhephasen zwang. Ihre Arthritis kam und ging, wie es ihr gerade passte. Anna war daran so gewöhnt, wie man sich an eine chronische Krankheit gewöhnen konnte. Sie war von balancierter Gelassenheit. Wie immer bei solchen unliebsamen Ereignissen rief sie ihre Freundin an, damit diese sich um den Garten kümmerte und für sie einkaufen ging. Sie versuchte, im Bett liegend zu lesen, schleppte sich mühsam in der Wohnung herum, und ass viel warme Gemüsesuppe. Es würde wieder vorübergehen. Wie immer, wenn sie in ihren Aktivitäten eingeschränkt war, schmiedete sie Pläne. das half ihr, die Schmerzen für eine Weile zu vergessen.

Sie dachte an den Auftaucher. Wenn sein Wachstum so rasch voranging und die Pflanzen so robust waren, dann könnte man sie doch auch anders einsetzen, überlegte Anna. Die Sache mit den Samenbomben hatte sie schon immer fasziniert. Ein wenig Kompost, ein wenig Ton, ein paar Samen, das ganze mit Wasser gemischt, zu Kugeln geformt und im Backofen getrocknet: Fertig war das Guerilla-Werkzeug. Der friedliche Widerstand gegen die fortschreitende Versiegelung ihres Dorfes konnte beginnen. „Wenn Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Das hatte sie schon in ihrer Jugend auf den Strassen gesungen, und auch an die Wände gekritzelt: „Unter dem Pflaster liegt der Strand!“ Orte gab es genug, die bepflanzt werden könnten: die aufgeschütteten Dekorationssteine im des Nachbars Garten, der verödete Kreisel in der Ortsmitte, die schmalen Brachen entlang der Parkplätze im Einkaufszentrum. Nur ertappen durfte man sie sich nicht dabei! Aber da vertraute sie ganz ihrer Findigkeit und dem Schutz durch ihr Alter. Man musste die Bomben ja nicht werfen, sondern konnte sie einfach unauffällig fallen lassen.

Noch eines wollte sie tun, wenn sie wieder auf den Beinen war: Endlich mit ihrer Teezeremonie beginnen. Die getrockneten Blätter des Auftauchers rochen ganz wundervoll und schmeckten vorzüglich, das hatte sie schon mehrmals erprobt. Sehr belebt hatte sie der zunächst vorsichtige, später aber immer gieriger werdende Genuss. Nun wollte sie diesen in geordnete Bahnen lenken. Sie spürte, wie ihr Körper sich nach der Natur in den getrockneten Blättern sehnte. Ein Teeritual wäre wohl eine interessante Sache, mal sehen, wohin es sie führen würde. Wenn sie sich nur zu einer täglichen Routine durchringen könnte! Oh ja, das waren gute Pläne. Bald würde es ihr auch wieder besser gehen.

Sechs

Mit grosser Nervosität hatte der Bürgermeister die ausserordentliche Sitzung im Gemeinderat eröffnet. Einziges Thema war die rasche Ausbreitung der Neophyten im Ort. Niemand wusste, wie sie hiessen, noch woher sie kamen. Das Einzige, das mit Gewissheit behauptet werden konnte, war, dass sich das Unkraut in rasantem Tempo ausbreitete. Schon seit Wochen hatte man auf öffentlichen Plätzen und privatem Grund die eigenartig riechenden und auffälligen Pflanzen bemerkt und beobachtet, wie sie sich zu einer allgemeinen Plage entwickelten.

Besonders der Kreisel bereitete dem lokalen Verkehrsreferenten grosse Sorge. Dort hatte die Pflanze die Betonumfassung gesprengt, einige Wurzelausläufer hatten sogar die Fahrbahn beschädigt. Der im Dorf ansässige Gärtnerbetrieb war beauftragt worden, der Pflanze mit allerlei Gerätschaften auf den Leib zu rücken. Seine Angestellten hatten schliesslich fluchend den gesamten Kreisel umgegraben und sich dabei über die Widerspenstigkeit der Pflanze, vor allem aber ihrer Wurzeln gewundert. Doch schon wenige Wochen danach war wieder alles beim Alten. Einige Samen konnten nicht entfernt werden und die Pflanze regenerierte sich rasch. So entschlossen sich die Gärtner heimlich, Pestizide in den Boden einzuarbeiten, was jedoch das Wachstum des Auftauchers nur noch beschleunigte. Schliesslich ordnete der Bürgermeister an, den gesamten Kreisel zuzubetonieren.

Ähnliche Probleme ergaben sich in den Gärten einiger Anrainer und auf dem Parkplatz des Supermarktes. Der ebenfalls von der Plage betroffene Bauer entschloss sich nach mehreren erfolglosen Giftgaben zur Brandrodung, die aber das erneute Auftauchen dieses Unkrauts nur unwesentlich verzögerte. Natürlich riefen all diese Massnahmen auch die lokalen Grünen auf den Plan. Ihre Vertreterin im Gemeinderat warf dem Bürgermeister lautstark einen fahrlässigen Umgang mit Giftstoffen vor, noch dazu auf öffentlich zugänglichem Gebiet. So würde bewusst die Gesundheit der Bevölkerung aufs Spiel gesetzt werden. Es gäbe wohl auch andere Methoden, wie man mit Neophyten umgehen könnte.

Diese Wortmeldung brachte wiederum einige Anwohner auf, die in ihren Gärten den Pflanzen einen hartnäckigen, aber erfolglosen Kampf lieferten. Ohnehin würden sie von der Gemeinde mit einer Vielzahl von Vorschriften in ihren Eigentümerrechten eingeschränkt werden. Nun kamen auch noch die Ökospinner, die ihnen vorschreiben wollten, wie sie mit dem Unkraut in ihren Gärten umzugehen hätten. Dem Bürgermeister warfen sie Untätigkeit, ja Nachlässigkeit vor. Einige Hausbesitzer berichteten vom Eindringen der Pflanze in ihren Kellern. Überhaupt: War nicht auch zu bemerken gewesen, dass diese Pflanzen vor allem bei sonnigem Wetter sirrende Töne vor sich gaben, unter denen ihre Haustiere litten?

Einige der anwesenden Gemeinderatsmitglieder lachten und witzelten hinter vorgehaltener Hand. Man solle doch nicht solche absurden Lügengeschichten verbreiten, warf die grüne Vertreterin ein. Noch nie hätte man Derartiges zu bemerken vermocht und überhaupt: dem natürlichen Wachstum von unbekannten, zugegeben, unbekannten Neophyten mit derart absurden Verschwörungstheorien zu begegnen, wäre lächerlich! Die Stimmung im Gemeinderat spitzte sich immer weiter zu.

Der Bürgermeister versuchte, die brodelnde Stimmung, die mehr Ausdruck einer allgemeinen Hilflosigkeit als inhaltlicher Auseinandersetzung war, zu beruhigen. Er trug aber selbst dazu bei, als er mit einer Nachricht herausrücken musste, die er gerne verheimlicht hätte. Ein Rechtsanwalt der Supermarktkette hätte ihn über die drohende Schliessung der Ortsfiliale gedroht, sollten nicht binnen weniger Wochen wirksame Massnahmen gegen die weitere Ausbreitung der Monsterpflanze getroffen werden. Immerhin sei der Parkplatz des Supermarktes nur noch eingeschränkt benutzbar, finanzielle Einbussen in grosser Höhe seien die Folge.

Die Lage war ernst. Doch was war zu tun? Noch nie hatte man es mit einer derartig absurden Situation zu tun gehabt.  Man könnte beispielsweise die verseuchten Flächen mit Baggern abtragen und so den Boden versiegeln. Das aber war aber nicht nur aufwändig und teuer, sondern würde das Ortsbild des Dorfes für mindestens eine Saison beeinträchtigen. Ohnehin hatte man wegen der Pandemie viele Bauvorhaben auf dieses Jahr verschieben müssen. Man wolle schliesslich nicht, dass der gesamte Ort zu einer einzigen Baustelle verkam. Auch die geplante Begrünung der Ortschaft wäre damit gestorben. Wer würde die Kosten dieser Massnahme tragen? Viele Grundstückseigentümer sahen hier die Gemeinde in der Pflicht. Zögernd wies der Bürgermeister dieses Ansinnen von sich und verwies auf geltende Flächenwidmungspläne.

Schliesslich beschloss man, die nahe Universität mit einer Studie zu beauftragen, welche zunächst einmal die theoretischen Grundlagen für ein weiteres Vorgehen bereitstellen sollte. Zu wenig war über diese Pflanze bekannt, als dass man zum gegenwärtigen Zeitpunkt vernünftige Entscheidungen treffen könne. Bis zum Vorliegen einer gesicherten Untersuchung würde man sich einfach weiterhin mit Provisorien behelfen müssen.

Das war für die meisten Beteiligten ein gangbarer Weg, auch angesichts des hereinbrechenden Winters. Man durfte wohl annehmen, dass er das Weiterwachsen der Pflanzen für einige Monate hintanhalten würde.

Sieben

Anna war mit sich zufrieden. Bei ihrem Spaziergang hatte sie sich davon überzeugen können, wie sehr die Renaturierung des Ortes in Schwung gekommen war. Überall diese wunderschönen Pflanzen, die sich so gut entwickelt hatten und mit ihrem strahlenden Gelb das Dorf verschönerten. Doch ihr Werk war nicht nur beglückend anzusehen, es trug auch die Schwingungen eines universalen Geistes in sich. Es war, im besten Sinne, ein Geschenk an die Menschen. Nicht nur, dass die Pflanzen sich überall im Ort verzweigen durften, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stossen. Besonders die Blüten waren voller Wunder.  Sie schienen sirrend und summend ein Lied vor sich herzutragen: jenes von der Rückkehr zur Natur und der Einheit aller Menschen guten Willens.

Anna ging es seit einigen Tagen gesundheitlich viel besser. Der Tee aus den aufgebrühten Blättern des Aufschneiders tat ihr gut. Wie schön, dass sie sich an das alltägliche Teeritual gewöhnt hatte. Im Keller ihres Hauses feierte sie rauschende Rituale mit ihren neuen Pflanzenfreunden. Diese waren inzwischen in ihrem Garten ohne grosse Mühe aus den Wurzelsperren ausgebrochen. Anna hatte nach anfänglicher Bestürzung eingesehen, dass das so richtig war. Eine besonders dicke Wurzel, die sich durch ihren gesamten Keller zog, nutzte sie nun als Ablage für Räucherwerk, Kerzen und Teegeschirr. Sie erfreute sich an dem wunderbaren Geruch in ihrem Keller, der einst so muffig gerochen hatte. Immer öfter stieg sie die ächzenden Stiegen in ihr neues Heim hinab, um dort ihr Ritual abzuhalten.

Doch eines war ihr trotz der Euphorie, die sie in letzter Zeit erfasst hatte, sehr klar geworden. Sie stand trotz all ihres Engagements am Beginn der Reise. Um die Welt in ein blühendes Naturparadies zu verwandeln, mussten noch einige Hindernisse überwunden werden. Es war ihr bislang leider noch nicht gelungen, für einen geregelten Nachschub an Samen zu sorgen. Vergeblich hatte Anna versucht, an dem angegebenen Postfach diese nachzubestellen. Niemand antwortete auf ihre wiederholten schriftlichen Nachfragen. Als sie sich bei der Post erkundete, bekam sie die Auskunft, dass das Postfach der Gärtnerei aufgelöst worden war. Eine Nachsendeadresse sei nicht bekannt. Auskünfte über die Daten von Kunden dürfe man nicht geben.

Wie immer war Anna guten Mutes. Wenn es so viele Pflanzen gab, gab es wohl auch genügend Samen. Sie zu sammeln und aufzubereiten, wurde iht ein neues Projekt. Sie hörte das aufmunternde Summen in ihrem Garten. Anna würde auch die neuen Samen zum Wachsen bringen. Denn sie hatte wichtige Pläne für den Nachbarort.


#writingmonth #alteleut

[Geschrieben im Rahmen des WritingMonth im November 2024] [759 Wörter, durchschnittliche Lesedauer von 5.30 Minuten]

Statt eines Vorworts

Im Dezember 2022 wurde ich von National Novel Writing Month (NaNoWriMo) aufgefordert, ein Online-Feedback über meine Erfahrungen mit der Plattform abzugeben. Da wäre mir fast der Kragen geplatzt. Ich wollte in Ruhe gelassen werden. Zu viel Kakophonie in der Schreib- und Lesestube! Natürlich: Geld muss gesammelt werden, und das nicht zu knapp. Über 1,4 Mio. USD wurden 2022 als Spendenziel angegeben. Derartige Vorhaben brauchen natürlich Reichweite und unentwegte Aktivierung der User.

Ich hatte mich auf der Plattform registriert, um meine Schreibroutine weiterzuentwickeln. Das war dort versprochen worden. Das Zählen der täglich geschriebenen Wörter, die Verfolgung eines Schreibzieles pro Monat, der Vergleich und die Kommunikation mit anderen Autor*innen sollten mir dabei helfen. Dies hat dann auch geklappt. Zusätzlich habe ich umfangreiches Textmaterial produziert. Der Wettbewerb war solidarisch, die Selbstvergewisserung über den Schreibfortschritt erhellend. Allein, mit der Vorgabe von 50.000 Wörtern pro Monat tatsächlich etwas Brauchbares schreiben zu können, ist natürlich eine naive Vorstellung. Doch darauf hatte ich ohnehin nicht gesetzt.

Schon damals reifte in mir die Überzeugung, dass ich meinen Schreibfortschritt nicht mehr lange von dieser Plattform begleiten lassen wollte, zu grell, zu bunt, zu marktschreierisch und geldbesessen kam sie daher. Lärm tut wahrlich nicht gut, man braucht Ruhe, um als Fiktionaut in Schreibwelten eintauchen zu können. Trotzdem habe ich aus Gewohnheit auch im darauffolgenden Jahr NaNoWriMo genutzt, um an einem anderen Projekt zu arbeiten. In zwei Jahren kamen immerhin rund 75.000 Wörter zustande. Zudem wurde ich auch unter Jahr produktiver und schreib freudiger. Die Methode wirkt. Ich möchte diese Novemberübung nicht mehr missen.

Trotzdem: Muss man sich einer lauten Plattform mit ihren unentwegt auftauchenden Schreibkursangeboten, Feedback- und Werbeschleifen ausliefern? Konnte man sich denn nicht auch in ein kleines dezentrales und stilles Forum zurückziehen und dasselbe tun: Seinem Schreibfortschritt gemeinsam mit Anderen huldigen? Vielleicht würde ja auch der Eintrag in ein Excel Sheet oder in den Kalender reichen.

Dann kam es zu jenen Entwicklungen, die mich dazu veranlassten, mich endgültig von der Plattform zu trennen: dem Missbrauch von Jugendlichen durch den Moderator eines Chatrooms, die zögerliche und verlogene Aufklärung dieses Vorfalls durch die Verantwortlichen und zu guter Letzt die Diskriminierung von Behinderten bei der Bewerbung Künstlicher Intelligenz als Schreibassistenten. Ich zog den Stecker und löschte wie viele Andere meinen Account bei NaNoWriMo. Im Jahr 2024 sollte es anders werden.

Wie andere Kritiker*innen suchte auch ich nach Alternativen. Diese gab es nun vermehrt. Etwa das Projekt von David S. Gale mit dem Namen Write Track Cloud. Ein sauber entwickelter Online Word-Count, der ohne jede Werbung auskommt. 2023 probierte ich die Anwendung eine Zeitlang aus, konnte mich aber wegen der doch recht umständlichen Features nie mit ihr anfreunden.

Derzeit gibt es eine Vielzahl anderer Plattformen, die oft noch in den Kinderschuhen stecken und um die Gunst der ehemaligen NaNoWriMo – Nutzer*innen buhlen. Eine genaue Analyse der Vor- und Nachteile dieser Anwendungen würde lohnen. Ich merke mir jedenfalls folgende Projekte vor: TrackBear, 4TheWords, MyWriteClub, Pacemaker, NoQu Official, Noivir und ShutUpandWrite.

Nach langer Überlegung habe ich mich allerdings für eine Plattform entschieden, auf die ich durch meine Mastodon – Präsenz aufmerksam wurde. Sie heißt WritingMonth und wurde von Benjamin Hollon in aller Eile kurz vor dem Beginn des NaNoWriMo 2024 aufgesetzt. Die Nachfrage war überraschend groß. Für die Teilnahme im November 2024 haben sich 424 AutorInnen registriert. Das Gesamtziel liegt bei beeindruckenden 15 Millionen Wörtern. Auch für Dezember gibt es schon Einträge.

Die kleine, fast karge Plattform ist zwar noch sehr weit von den selbstgewählten Zielen entfernt, hat mich aber sofort angesprochen. Mit dem Softwareentwickler kann man sich ungezwungen austauschen, Werbung fehlt völlig, die aufgeräumte Struktur und die Freiheit sich selbst Ziele zu setzen waren für mich ausschlaggebend. Kostenfrei ist die Plattform außerdem. Einziger Wermutstropfen: man hat noch keine Einsicht in die Fortschritte seiner Buddys und kann mit ihnen auf der Plattform noch nicht kommunizieren. Ich weiche dafür auf Mastodon aus.

Und so befinde ich mich bereits mitten in einem neuen Writing Month mit einer sympathisch klaren und dezentralen Plattform. Ich werde sieben Erzählungen schreiben, jede einzelne wird in sieben Kapitel gegliedert. Wir folgen alten Menschen, ihren Wundern und den sieben Sinnen. Wer die unlektorierten Texte mitlesen will, kann dies gerne bis Jahresende auf meinem Zettelwerk tun.

Möge der Writing Month gedeihen und meine neue Heimat werden in diesem Irrenhaus der freiwilligen Wörterzähler.


#writingmonth24 #alteleut #WriteTrack #Nanowrimo

[Geschrieben im Rahmen des WritingMonth im November 2024] [3551 Wörter, durchschnittliche Lesedauer von 25 Minuten]

Eins

Langsam stieg G. die Treppe hinauf. Er hatte seine Arbeit unterbrechen müssen, um seine Medikamente zu holen. Morgens, mittags, abends: eine penetrante Routine, auf die er manchmal gerne verzichtete.

G. öffnete die Tür zu seinem Büro. Eigentlich war es nur eine Arbeitsecke, die er dem ehemaligen Zimmer von J.s Tochter abgerungen hatte. Sonst hatte sich im Zimmer nichts verändert. Nahm man es genau, war fast alles beim Alten geblieben: Das Bett, die vollgeräumten Kästen, das verstaubte Buchregal in der Ecke. Diese Möbel durften nicht verändert werden: das hätte das Andenken an sie, die schon seit Jahren das Haus verlassen hatte, irritiert.

Er nutzte den kleinen Mädchenschreibtisch und einen Holzsessel, den er von der Küche heraufgebracht hatte. Links davon hatte er vor dem Mansardenfenster eine Art Stehtisch aufgebaut, auf den er seine Papierarbeiten bei gutem Licht erledigen konnte. Darunter Stoffboxen mit seinen Arbeitsutensilien, eine kleine Pinnwand aus gealtertem Kork, ein selbstgebastelter Organizer für Schreibgeräte. Das sich an der Wand entlang schlängelnde Stromkabel für seinen Computeranschluss. Alles in dieser Ecke war durchdacht, zweckmässig und platzsparend. Das war der Raum, in dem er sich zu konzentrieren wusste, dem Alltag entfloh, seine Wunschmaschine anwarf. Ein Platz selbstvergessener Nutzlosigkeit, wie er einmal abends zynisch bemerkte. J. hatte dazu geschwiegen, wie so oft.

G. setzte sich hin, um die erste Tagebucheintragung des Tages zu verfassen. Das spartanische Ambiente half, seiner Phantasie Platz zu geben. Er war schon immer ein Freund des Einfachen gewesen. Verspieltheit und barocker Überfluss irritierten ihn. So ging es ihm im Grunde auch mit den Menschen da Draussen: ein verstörendes Wirrwarr an lautem Getue, das seine Intelligenz beleidigte. Für seine Tagebucheintragungen brauchte er Ruhe, Konzentration und eine feste Mauer um sich herum. Nur das leere Blatt Papier bot Platz für wertvolle Gedanken, behauptete er gerne. Dann flog er schreibend hinein in seine Welt hinweg und alles war wie früher, in seinem vergangenen Leben.

Er las auch für sein Leben gerne, mit der Hingabe eines Süchtigen, Belletristik zumeist, Essays, philosophische Abhandlungen. Aber vertieftes Lesen gelang ihm oben nicht, eingeengt zwischen den beiden Tischen, der Wand und den Holzverstrebungen des Daches. Für die Lektüre nutzte er deshalb das gemeinsame Schlafzimmer, das ihm unter Tags die Ruhe und Bequemlichkeit bot, die er dafür benötigte. Dann lag er auf dem zerwühlten Bett, hatte die Vorhänge zugezogen und vertiefte sich in seine Bücher. Trat J. zufällig ins Zimmer, stellte er sich schlafend. Das respektierte sie.

So pendelte er mit seinen Leidenschaften zwischen den Stockwerken und brummelte unwillig, wenn ihn J. in ihre Realität zwingen wollte. Er war sich selbst genug. Bei seinen Liebhabereien sollte man ihn nicht stören, auf keinen Fall. Sie nahm ohnehin keinen Anteil daran.

Zwei

Mit Verve hatte sich G. auf die Arbeit mit Wellpappe geworfen, einem Werkstoff, den er erst vor kurzem entdeckt hatte. Wellpappe war meist kostenlos, kam seinem Wunsch nach Wiederverwertung entgegen und stellte ausserdem ein interessantes Material dar. Das Modell, an dem er gerade arbeitete, lag auf dem Boden. Auf einer himmelblauen Grundfläche erhoben sich kleine Quader aus Wellpappe, unterschiedlich hoch, exakt geschnitten, sauber grundiert und auf den Untergrund geklebt. Die obersten Stockwerke und Dächer mehrerer Plattenbauten bildeten sich hier ab. Es war eine Art solides Fundament, auf dem seine zukünftige Siedlung entstehen sollte. Er hatte sich von den Plattensiedlungen in Berlin inspirieren lassen. Das Ergebnis war stilisiert, ohne all dem Schnickschnack von Modellbauten. G. betrachtete sich als Künstler, nicht als Hobbyisten.

Damals, als er noch im Berufsleben stand, war er mehrmals in Berlin gewesen. An der Karl-Marx-Allee war er entlang spaziert, hatte die Plattenbauten fasziniert betrachtet. Ein Haus betrat er, in dessen Erdgeschoss ein Computerspiel-Museum eingerichtet war. Es war ein historisch interessanter Ort. Für Ost-Nostalgie war er immer empfänglich gewesen. Hier hatte sich bis 1989 das Café Warschau befunden. Er liebte diese Zeitreisen, die ihn mit ihrer Nostalgie fesselten. Beim Bau des Modells war er wieder in diese doppelte Vergangenheit eingetaucht: seine und die einer Stadt.

Befriedigt atmete er aus. Er blickte sinnend aus dem Mansardenfenster. Vor ihm die Schräge der Dachziegel, braun, grob, schmutzig. Sie waren mit hellgrünen Flechten bedeckt. Sah man genau hin, konnte man die einzelnen Pflänzchen dieser Wildnis en miniature bewundern, das sich ohne menschliches Zutun einen Platz an der Sonne erstritten hatte. Winzige weisse Blüten strahlten inmitten des saftigen Grüns. G. hatte sich schon seit einiger Zeit vorgenommen, diese verkannte Schönheit zu fotografieren, aber es dann doch nie getan. Das war schade, denn bei starkem Regen und Sturm rutschten die Moospolster die Dachschräge abwärts und fielen über die Regenrinne hinweg auf den Terrassenboden. Dort wurden sie unansehnlich, zu schwarzen aufgequollenen Klumpen, die als Folge von J.s regelmässigen Besenrunden im Kompost landeten.

Er dachte in letzter Zeit viel darüber nach, was man mit der vor ihm liegenden Dächerwelt anstellen konnte. Genau wie bei seinem Modell könnte in luftiger Höhe eine neue Siedlung entstehen, mit untereinander verbundenen Plattformen, kleinen Holzgebäuden, grosszügigen Grünflächen und Zustiegen über erweiterte Dachfenster. Der Blick aus dem Fenster bot ihm Anlass für den Traum von einer anderen Welt. Wie könnte so eine neue Dachlandschaft aussehen?

Den Anstoss dazu hatte ein Buch gegeben, das über eine Zukunft nach der grossen Klimakatastrophe erzählte. Der Plot war ein wenig verworren, manchmal auch weitschweifig, aber gut erzählt. Die Autorin besass wohl ein grosses Schreibtalent, war zum Shooting Star der deutschen Sci-Fi geworden. G. las viel von ihr. Doch der Anfang dieses speziellen Buches hatte ihn sofort in seinen Bann gezogen. Eine Gruppe von Jugendlichen hatte sich auf die Dächer einer Wohnsiedlung zurückgezogen, um dort zu leben und zu arbeiten. Hier, hoch oben, still und nur manchmal von Tourist*innen besucht, verbrachten sie ihre Zeit. Einen kleinen Wald gab es dort, ein abgeschottetes Labor, ein Wohngebäude, das in 3-D-Druck gebaut worden war, zwei Helipads für Schwebekissen, einen Kletterturm, Gartenparzellen, Zäune. Das war die neue Ebene einer Stadt, auf die sich die Aussenseitern zurückgezogen hatten: eine gut gelungene Mischung aus Solarpunk und Post-Apokalypse. Nach unten, auf die Strassen der Stadt, ging man nie, dort war das Leben unerträglich geworden, es war erfüllt von Verbrechen, Ansteckungsgefahr, Schmutz und Gewalt. Auch auf den Dächern war es mitunter unerträglich: Hitze, Smog und Stürme wüteten in immer kürzer werdenden Abständen. Nie mochte sich der Smog verziehen und den Himmel in Blau erstrahlen lassen. Dieses literarische Szenario war erschreckend und beruhigte G. zugleich auf skurrile Weise. Die Katastrophe war vorbei, jetzt durfte man sein Leben zu Ende bringen. Es war, als bräuchte man nur das Ende der Welt überstehen, um wieder glücklich zu werden. Letzten Endes gab es nichts, was an der alten Welt zu betrauern wäre.

Der Gedanke an diese fiktive Stadt wollte ihn nicht mehr losgelassen. Wie würde eine zukünftige Welt hoch oben auf den Dächern einer Stadt auszusehen haben? Der neuerliche Blick aus dem Fenster liess ihn höhnisch auflachen. Die Realität schien eine idyllische zu sein. Alles was er sah, war sauber und geordnet, die Gärten blühten in strengem Reglement vor sich hin. Das Dorf tat so, als wäre alles in bester Ordnung, als hielte die von Menschen auferlegte Ordnung den Rest der Natur im Schach. Trotz der Regenfälle, des Hagels und der Hitze dieses Sommers schien kein Platz zu sein für Bedenken. Alle woben an dem Lügennetz aus Verdrängung und Angst, waren aber bereits Verlorene.

Drei

Die Vorstellung einer Siedlung auf den Dächern der Stadt liess ihn nicht mehr los. G. wollte nicht mehr abwarten, sondern zu einer, wie auch immer gestalteten Zukunft beitragen. Alles war besser, als keine Zukunft für sich in Anspruch zu nehmen. Selbst das Fertigen eines Modellbaus würde helfen.

Natürlich kamen auch andere Ideen hinzu. In einem anderen Buch hatte er von einem Säulenwald gelesen, Ausdruck einer Künstlichen Intelligenz am Meeresgrund eines Eismondes. Dort war der Körper eines Astronauten verloren gegangen, sein Bewusstsein tauchte allerdings andernorts wieder auf und beteiligte sich an der Handlung Auch das war ein Szenario, die sein Interesse hervorrief: Pappe in kühlen Marmor mit unbekannten Schriftzeichen verwandeln; die Säulen mit Kommunikationsadern aus Hanffaden verbinden; zum Zentrum der K.I. vordringen und dort ein quadratisches Podest mit einer Art Baldachin versehen. Auch dieser Raum wäre reizvoll, um ihn nachzubauen.

Auf einmal schien sich in fast jedem seiner Lektüren ein Vorhaben zu verbergen, das es umzusetzen galt: Fluide Kommandozentralen, sphärische Gefängnisse umgeben von Vakuum, undurchdringliche Wälder, die Menschen nach dem Betreten verschluckten und nicht mehr hergaben. Jede Fiktion schien ihm ein räumliches Modell abzuverlangen, das er weiterentwickeln und zu einem guten Ende bringen sollte. Er wollte Welten bauen, ein Demiurg neuen Zuschnitts werden, Partner all jener Autor*innen, die unerschütterlich vor sich hin phantasierten.

Wirklich zu begeistern vermochte ihn aber nur die Enklave auf den Dächern. Mit etwas musste man ja beginnen. G. würde die Idee der Autorin weiterentwickeln, sich mit dem halluzinierten Raum verbinden, den sie erschaffen hatte. Seine selbstgewählte Rolle als Fiktionaut nahm er ernst. Die Charaktere würden ihre Heimat bekommen, die Zukunft ein Gesicht. Wenn jemand etwas mit Hingabe zu schreiben vermochte, so überlegte er, musste das Ergebnis doch einen Grad an Wahrheit besitzen. Wenn es Wahrheit in sich trug, konnte es auch Wirklichkeit werden. Wirklichkeit war ohnehin immer fragwürdig. Es galt, sie zu erfinden. Was genau mochte sich die Autorin vorgestellt haben, als sie den Roman auf den Dächern Berlin begann? Was wurde erzählt, was blieb ungesagt? Wo begann der kreative Freiraum für den Demiurgen? Was würde er gestalten dürfen, ohne sich zu weit von der Vorlage zu entfernen?

Er beschloss, sich seiner Arbeit der gebotenen Ernsthaftigkeit eines künstlerisch begabten Menschen zu widmen. Kunst war Wahrheit und besass Wichtigkeit, redete er sich ein. Details waren nicht wichtig, es zählte allein der Entwurf. Ein Modell wäre eigentlich schnell zu erledigen, so, als würde ein Maler mit wenigen Pinselstrichen eine Welt erkennbar andeuten, redete er sich ein. So feuerte er sich an. Er hoffe, J. würde ihn nicht fragen, warum er an dieser schiefen, bunten, ja kindlich wirkenden Stadt aus Pappe arbeitete. G. hätte nur schwer erklären können, was ihn antrieb. Sie würde ihn nicht verstehen. Er käme sich wie ein Kind vor, das dem Anspruch von Erwachsenen nicht genügte. Wie ein verrückt gewordener alter Mann. Doch jeder hatte seinen Traum.

Da war natürlich die Sache mit dem Masstab. Phantasie, so war er überzeugt, durfte nicht in Phantasterei entgleiten. Phantasie musste real werden, sich an den Gesetzen dieser Welt messen lassen. Er hatte deshalb, um für das Fundament Mass zu nehmen, ein kleines Männchen aus zusammengerolltem Papier erschaffen. Alles hing von seiner Grösse ab: die Höhe der Bauten, die Masse des Waldes, die Tiefe des darin befindlichen Tümpels. Man sollte sich zurecht finden auf dieser postapokalyptischen Plattform. Das Männchen war das Mass der Welt. Er gab ihm seinen Namen: G.

Vier

Mehrere Wochen verbrachte er schon mit seinem Projekt. Die Konstruktion hielt ihn im Bann. Er nahm sich ernst, er nahm seine Siedlung ernst. Mehrmals produzierte Papierskizzen erwiesen sich als unbrauchbar, die Pappe tat nicht, was für sie bestimmt war. Sie folgte ihre eigenen Gesetzen, mit denen G. Noch nicht vertraut war. Doch die Zeit drängte. G. Entschloss sich, intuitiv zu bauen. Doch die Lösung einer Frage führte zur nächsten. Wie konnte man Dächer elegant verbinden? Wie eine Konstruktion finden, die Zugänge ermöglichte und Plattformen Platz bot. Was erschien statisch einsichtig und war elegant zugleich? Was gab die Pappe wirklich her? Musste zusätzliches Material aufgeboten werden: Stückchen, Papier, Bäumchen aus Kunststoff? Was sollte er bemalen und was roh wirken lassen? Und wohin mit dem immer grösser werdenden Modell?

Er war Architekt, Baumeister und Nutzer der ersten Gebäude, die auf der immer grüner werdenden Grundfläche entstand. Es störte ihn, das er sein Modell nicht betreten konnte. Sechs Personen sollten darin wohnen, so sah es zumindest der Roman vor. Zwei Personen müssten in dem hermetisch nach aussen abgeschlossenen Labor arbeiten. Lange dachte er darüber nach, welche Annehmlichkeiten unerlässlich, angemessen oder überflüssig waren. Es war nicht nur die Frage, was er an Material zur Verfügung hatte. Es war die Frage, welche Materialien er abbilden konnte, welche in einer dystopischen Stadt überhaupt verfügbar seien konnte. Was benötigte man dort nicht mehr, was lag frei herum, was konnte gestohlen werden, wenn eine Stadt zugrunde ging? Wie war es Möglich, die Baustoffe in die oberste Etage eines Hauses zu verbringen? Man durfte wohl annehmen, dass keine Kräne zur Verfügung standen. Der Bau musste mit Menschenkraft bewältigt werden. Die Materialien würden knapp sein in einer Mangelwirtschaft, in der sich alle schamlos bedienten, um ihre dringendsten Bedürfnisse zu stillen.

Wie ein Kind hielt er dann das Männchen zwischen Daumen und Zeigefinger und liess es auf dem Grundriss tanzen. Was früher nur ein provisorischer Gegenstand gewesen war, wurde zum Abbild eines Menschen: Beine, Körper, Kopf und Arme, Individualität, Unterscheidbarkeit. Er bemalte es, verordnete ihm Kleidung. Er sprach mit sich selbst, er sprach zu seinem Geschöpf. Beide wuchsen zusammen. Auch musste man alle zukünftigen Bewohner*innen der Siedlung über ihre Bedürfnisse befragen. Bald hatte er sieben kleine Figuren zur Verfügung, mit denen er umzugehen wusste wie mit zukünftigen Mietern. Es waren, so gut er es auch nur erlesen und fantasieren konnte, die Hauptcharaktere des Romans. G. war einer von ihnen. Er wählte für sich den Charakter des Computer-Nerds, eines Hackers, der sich kaum aus seinem Labor bewegte aus Angst, aufgespürt zu werden. Zum paranoiden Genie entwickelte er sich, der seine Gefährt*innen mit all dem Wissen versorgte, das sie zum Überleben benötigten. Ein Sonderling, aber trotzdem nützlich für Alle.

Es liess sich nicht vermeiden, dass er manchmal Details nachschlagen musste. Verstreut in den 500 Seiten des Buches fanden sich immer wieder Hinweise über die Siedlung auf den Dächern. Angebracht wäre es auch gewesen, das Buch nochmals, gründlich, und mit dem Anbringen von Randnotizen zu lesen. Das war, zu seinem Bedauern, mit der benötigten Konzentration nur unten im Schlafzimmer möglich. Derart waren seine Gewohnheiten an die Räumlichkeiten ihrer gemeinsamen Wohnung gekoppelt, dass er sich leichtfertig von ihnen zu lösen vermocht hätte. Er musste also einen Kompromiss finden, einen nächsten Schritt in seinem Leben machen. Ausserdem bereitete ihn der Abstieg in die Niederungen der Realität immer mehr Missbehagen. Man wusste nie, was einem dort an Anforderungen erwartete. Die Ansprüche des Alltags, die J. mit unerbittlich vertrat, waren ihm mit der Zeit ungeheuerlich geworden, hatten mehr an seiner Lebenszeit verschlungen, als er herzugeben bereit war. Das Inferno seines Alters war grösser geworden, die Bedrohungen, die unten auf ihn warteten, nicht unerheblich. Geldmangel, Krankheit, bürokratische Unzumutbarkeiten, Streit, Frechheiten der Nachbarn: alles war zu erwarten. Nichts versprach die Sicherheit, die er so nötig brauchte.

Fünf

G. beschloss, die unteren Räume nur mehr in Notfällen zu betreten. Lesen konnte er ja auch im Bett in seinem Büro. Daran würde er sich gewöhnen. Auch ein kleines Badezimmer gab es im Dachgeschoss, das müsste für seine Bedürfnisse genügen. Vielleicht wäre J. Ja auch so entgegenkommend, ihm in den nächsten Wochen Frühstuck und Abendessen vor die Tür zu stellen. Vermissen würde sie ihn ohnehin nicht. Sie war in letzter Zeit immer einsilbiger geworden und sprach kaum mehr mit ihm. Sie kapselte sich ein in die Geräuschkulisse ihrer Kopfhörer, die sie kaum mehr abnahm. Er verfolgte seine kruden Pläne. Es schien eine der vielen Lasten des Alters zu sein, dass man verstummte, einfach, weil man nichts mehr zu sagen hatte und in sich selbst versank.

Vor seinem Fenster bestand die Welt nur mehr aus Nebel und Stille. Es war November geworden. Das Draussen war erstarrt, statisch, ohne nennenswerte Bewegung. Nur die üblichen Störenfriede der Grundstückspfleger wüteten mit Laubbläsern und fegten alles was leicht und lebendig war, in den Müll der dörflicher Neurose. G. überlegte: Einen Zugang zum Dach des benachbarten Wintergartens von seinem Fenster könnte immerhin möglich sein. Er musste sich nicht auf ein Modell beschränken müssen. Was denkbar war, war auch möglich. Die Neigung der beiden Dächer war nicht so stark, dass man nicht darauf stehen konnte, um für die Verankerung des Steges zu sorgen. Dort, an der Hausmauer könnte man dann im rechten Winkel die erste Plattform aufsetzen. Er nickte sich zu. Wahrscheinlich wäre er der erste in seiner Gemeinde, der die Idee vom Lebens auf den Dächern vorgeschlagen würde.

Die Aufgabe nahm ihn nun völlig in Beschlag. Nächtelang, bis in die Morgenstunden arbeitete er daran, die Siedlung zu komplettieren. Er begann zunehmend mit den Resultaten seiner Arbeit zufrieden zu sein. Eines Tages feierte er so etwas wie ein Richtfest. Es war ihm gelungen, alle Gebäude in ihren Grundelementen auf einem Netz von Übergängen, Plattformen Stützen und Streben zu errichten. Alles war säuberlich verklebt, grundiert und gestrichen. Das Zimmer ein Chaos, überall Klebereste, Reste von Wellpappe, Farbspritzer. In seinem Tagebuch waren fein säuberlich die erledigten Arbeitsschritte aufgelistet. Längst waren ihm Tag und Nacht Eins, sie unterschieden sich nur durch die Helligkeit, die durch das Mansardenfenster sickerte. Eines Tages setzte er sich an seinen Computer, um die Autorin des Buches von der Vollendung ihrer Welt zu informieren. Er hoffe, sie wäre zufrieden damit. Vielleicht könnte er sie auch für ein neues Projekt gewinnen, dass in der Kühnheit seiner Überlegungen ausserordentlich war. Es würde die Welt um ihn grundlegend verändern.

Sechs

Das Fenster hielt er nun auch tagsüber immer geöffnet. Das neue Projekt erforderte ausreichend Platz. Manchmal ragten die stramm montierten Pappverstrebungen weit aus dem Fenster der Mansarde. Auch die Verankerungen für die schmale Gangway an Fensterrahmen und Fensterbrett erforderten Zugänglichkeit. Das Fenster blieb meist offen, auch damit er die Verankerungen seiner Aussenkonstruktion ordentlich am Rahmen befestigen konnte. Klamm hingen die Verklebte Konstruktion hinaus ins Freie.

Die Nässe des Novembers kroch in den Raum. Er war froh, dass die Bewohner*innen seiner ersten Siedlung ihre Hilfe angeboten hatten. Er war ein alter Mann und sie waren ihm wohl Hilfe schuldig. Mit ihnen sprach er oft und er konnte auf ihre Ratschläge zählen. In Reih und Glied standen sie auf dem Tisch und lauschten seinen Ausführungen. Leider hatte sich die hochverehrte Autorin auf seine Vorschläge nicht gemeldet. Das enttäuschte G., führte das aber auf die Konzentrationsschwäche und mangelnde Ernsthaftigkeit der Jugend zurück. Er verzieh ihr: sie war wohl mit dem nächsten Roman beschäftigt. Sie würde aber letztendlich staunen, was er hier zustande brachte.

G. hatte allmählich ein Problem mit den grossen Verbrauch an Pappe. In den nächsten Tagen würde es wieder die Fahrt in den Supermarkt erfordern, der immer Kartons in bester Qualität für ihn bereithielt. Mehrmals pro Woche musste er seine Mitbewohnerin bitten, ihn mit dem Auto dorthin zu fahren. J. würde wahrscheinlich wieder die Augen verdrehen, wenn er das Auto mit den ungefilterten Kartons voll stopfte. Im Supermarkt hatte er inzwischen eine fragwürdige Berühmtheit erlangt, so gross war seine Gier nach den zwei- und dreiwelligen Pappe bester Qualität. Manchmal kam man ihm entgegen und zerlegte die Kartons für ihn. J. schämte sich wohl ein wenig für G.: vielleicht war das eine der wenigen Gefühlsregungen, die sie noch für ihn aufbringen konnte.

Sieben

Heute war wieder ein windige und verregneter Tag. J. War wie immer früh aufgestanden und hatte die Wohnküche aufgeräumt. Seufzend bereitete sie Butterbrot und Kaffee zu und stellte es auf das Servierbrett, Einen handbeschriebenen Zettel legte sie dazu. „Du wolltest heute die Türschnalle reparieren!“ Sie wusste, er würde darauf nicht reagieren, aber immerhin hatte sie ihm ein schlechtes Gewissen gemacht. Ächzend und ein wenig aus dem Gleichgewicht kommend, stieg sie die Treppe hinauf, stellte das Tablett ab und klopfte an der Tür. Drinnen war es still. Normalerweise hörte sie ihn vor sich hin murmeln. Durch den Türspalt sah sie, dass das Licht noch immer brannte. Es war still, nur das Fenster hörte sie gegen den Rahmen schlagen.

Was für ein Idiot, murmelte sie und stieg nach mehrmaligen Rufen und Klopfen resigniert die Treppen hinunter. Sie beschloss, als Nächstes die Terrasse zu fegen. Es war schliesslich Herbst, überall Blätter, und auch das Moos, das es vom Dach gefegt hatte.


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