076 Der Fiktionaut
[Geschrieben im Rahmen des WritingMonth im November 2024] [3551 Wörter, durchschnittliche Lesedauer von 25 Minuten]
Eins
Langsam stieg G. die Treppe hinauf. Er hatte seine Arbeit unterbrechen müssen, um seine Medikamente zu holen. Morgens, mittags, abends: eine penetrante Routine, auf die er manchmal gerne verzichtete.
G. öffnete die Tür zu seinem Büro. Eigentlich war es nur eine Arbeitsecke, die er dem ehemaligen Zimmer von J.s Tochter abgerungen hatte. Sonst hatte sich im Zimmer nichts verändert. Nahm man es genau, war fast alles beim Alten geblieben: Das Bett, die vollgeräumten Kästen, das verstaubte Buchregal in der Ecke. Diese Möbel durften nicht verändert werden: das hätte das Andenken an sie, die schon seit Jahren das Haus verlassen hatte, irritiert.
Er nutzte den kleinen Mädchenschreibtisch und einen Holzsessel, den er von der Küche heraufgebracht hatte. Links davon hatte er vor dem Mansardenfenster eine Art Stehtisch aufgebaut, auf den er seine Papierarbeiten bei gutem Licht erledigen konnte. Darunter Stoffboxen mit seinen Arbeitsutensilien, eine kleine Pinnwand aus gealtertem Kork, ein selbstgebastelter Organizer für Schreibgeräte. Das sich an der Wand entlang schlängelnde Stromkabel für seinen Computeranschluss. Alles in dieser Ecke war durchdacht, zweckmässig und platzsparend. Das war der Raum, in dem er sich zu konzentrieren wusste, dem Alltag entfloh, seine Wunschmaschine anwarf. Ein Platz selbstvergessener Nutzlosigkeit, wie er einmal abends zynisch bemerkte. J. hatte dazu geschwiegen, wie so oft.
G. setzte sich hin, um die erste Tagebucheintragung des Tages zu verfassen. Das spartanische Ambiente half, seiner Phantasie Platz zu geben. Er war schon immer ein Freund des Einfachen gewesen. Verspieltheit und barocker Überfluss irritierten ihn. So ging es ihm im Grunde auch mit den Menschen da Draussen: ein verstörendes Wirrwarr an lautem Getue, das seine Intelligenz beleidigte. Für seine Tagebucheintragungen brauchte er Ruhe, Konzentration und eine feste Mauer um sich herum. Nur das leere Blatt Papier bot Platz für wertvolle Gedanken, behauptete er gerne. Dann flog er schreibend hinein in seine Welt hinweg und alles war wie früher, in seinem vergangenen Leben.
Er las auch für sein Leben gerne, mit der Hingabe eines Süchtigen, Belletristik zumeist, Essays, philosophische Abhandlungen. Aber vertieftes Lesen gelang ihm oben nicht, eingeengt zwischen den beiden Tischen, der Wand und den Holzverstrebungen des Daches. Für die Lektüre nutzte er deshalb das gemeinsame Schlafzimmer, das ihm unter Tags die Ruhe und Bequemlichkeit bot, die er dafür benötigte. Dann lag er auf dem zerwühlten Bett, hatte die Vorhänge zugezogen und vertiefte sich in seine Bücher. Trat J. zufällig ins Zimmer, stellte er sich schlafend. Das respektierte sie.
So pendelte er mit seinen Leidenschaften zwischen den Stockwerken und brummelte unwillig, wenn ihn J. in ihre Realität zwingen wollte. Er war sich selbst genug. Bei seinen Liebhabereien sollte man ihn nicht stören, auf keinen Fall. Sie nahm ohnehin keinen Anteil daran.
Zwei
Mit Verve hatte sich G. auf die Arbeit mit Wellpappe geworfen, einem Werkstoff, den er erst vor kurzem entdeckt hatte. Wellpappe war meist kostenlos, kam seinem Wunsch nach Wiederverwertung entgegen und stellte ausserdem ein interessantes Material dar. Das Modell, an dem er gerade arbeitete, lag auf dem Boden. Auf einer himmelblauen Grundfläche erhoben sich kleine Quader aus Wellpappe, unterschiedlich hoch, exakt geschnitten, sauber grundiert und auf den Untergrund geklebt. Die obersten Stockwerke und Dächer mehrerer Plattenbauten bildeten sich hier ab. Es war eine Art solides Fundament, auf dem seine zukünftige Siedlung entstehen sollte. Er hatte sich von den Plattensiedlungen in Berlin inspirieren lassen. Das Ergebnis war stilisiert, ohne all dem Schnickschnack von Modellbauten. G. betrachtete sich als Künstler, nicht als Hobbyisten.
Damals, als er noch im Berufsleben stand, war er mehrmals in Berlin gewesen. An der Karl-Marx-Allee war er entlang spaziert, hatte die Plattenbauten fasziniert betrachtet. Ein Haus betrat er, in dessen Erdgeschoss ein Computerspiel-Museum eingerichtet war. Es war ein historisch interessanter Ort. Für Ost-Nostalgie war er immer empfänglich gewesen. Hier hatte sich bis 1989 das Café Warschau befunden. Er liebte diese Zeitreisen, die ihn mit ihrer Nostalgie fesselten. Beim Bau des Modells war er wieder in diese doppelte Vergangenheit eingetaucht: seine und die einer Stadt.
Befriedigt atmete er aus. Er blickte sinnend aus dem Mansardenfenster. Vor ihm die Schräge der Dachziegel, braun, grob, schmutzig. Sie waren mit hellgrünen Flechten bedeckt. Sah man genau hin, konnte man die einzelnen Pflänzchen dieser Wildnis en miniature bewundern, das sich ohne menschliches Zutun einen Platz an der Sonne erstritten hatte. Winzige weisse Blüten strahlten inmitten des saftigen Grüns. G. hatte sich schon seit einiger Zeit vorgenommen, diese verkannte Schönheit zu fotografieren, aber es dann doch nie getan. Das war schade, denn bei starkem Regen und Sturm rutschten die Moospolster die Dachschräge abwärts und fielen über die Regenrinne hinweg auf den Terrassenboden. Dort wurden sie unansehnlich, zu schwarzen aufgequollenen Klumpen, die als Folge von J.s regelmässigen Besenrunden im Kompost landeten.
Er dachte in letzter Zeit viel darüber nach, was man mit der vor ihm liegenden Dächerwelt anstellen konnte. Genau wie bei seinem Modell könnte in luftiger Höhe eine neue Siedlung entstehen, mit untereinander verbundenen Plattformen, kleinen Holzgebäuden, grosszügigen Grünflächen und Zustiegen über erweiterte Dachfenster. Der Blick aus dem Fenster bot ihm Anlass für den Traum von einer anderen Welt. Wie könnte so eine neue Dachlandschaft aussehen?
Den Anstoss dazu hatte ein Buch gegeben, das über eine Zukunft nach der grossen Klimakatastrophe erzählte. Der Plot war ein wenig verworren, manchmal auch weitschweifig, aber gut erzählt. Die Autorin besass wohl ein grosses Schreibtalent, war zum Shooting Star der deutschen Sci-Fi geworden. G. las viel von ihr. Doch der Anfang dieses speziellen Buches hatte ihn sofort in seinen Bann gezogen. Eine Gruppe von Jugendlichen hatte sich auf die Dächer einer Wohnsiedlung zurückgezogen, um dort zu leben und zu arbeiten. Hier, hoch oben, still und nur manchmal von Tourist*innen besucht, verbrachten sie ihre Zeit. Einen kleinen Wald gab es dort, ein abgeschottetes Labor, ein Wohngebäude, das in 3-D-Druck gebaut worden war, zwei Helipads für Schwebekissen, einen Kletterturm, Gartenparzellen, Zäune. Das war die neue Ebene einer Stadt, auf die sich die Aussenseitern zurückgezogen hatten: eine gut gelungene Mischung aus Solarpunk und Post-Apokalypse. Nach unten, auf die Strassen der Stadt, ging man nie, dort war das Leben unerträglich geworden, es war erfüllt von Verbrechen, Ansteckungsgefahr, Schmutz und Gewalt. Auch auf den Dächern war es mitunter unerträglich: Hitze, Smog und Stürme wüteten in immer kürzer werdenden Abständen. Nie mochte sich der Smog verziehen und den Himmel in Blau erstrahlen lassen. Dieses literarische Szenario war erschreckend und beruhigte G. zugleich auf skurrile Weise. Die Katastrophe war vorbei, jetzt durfte man sein Leben zu Ende bringen. Es war, als bräuchte man nur das Ende der Welt überstehen, um wieder glücklich zu werden. Letzten Endes gab es nichts, was an der alten Welt zu betrauern wäre.
Der Gedanke an diese fiktive Stadt wollte ihn nicht mehr losgelassen. Wie würde eine zukünftige Welt hoch oben auf den Dächern einer Stadt auszusehen haben? Der neuerliche Blick aus dem Fenster liess ihn höhnisch auflachen. Die Realität schien eine idyllische zu sein. Alles was er sah, war sauber und geordnet, die Gärten blühten in strengem Reglement vor sich hin. Das Dorf tat so, als wäre alles in bester Ordnung, als hielte die von Menschen auferlegte Ordnung den Rest der Natur im Schach. Trotz der Regenfälle, des Hagels und der Hitze dieses Sommers schien kein Platz zu sein für Bedenken. Alle woben an dem Lügennetz aus Verdrängung und Angst, waren aber bereits Verlorene.
Drei
Die Vorstellung einer Siedlung auf den Dächern der Stadt liess ihn nicht mehr los. G. wollte nicht mehr abwarten, sondern zu einer, wie auch immer gestalteten Zukunft beitragen. Alles war besser, als keine Zukunft für sich in Anspruch zu nehmen. Selbst das Fertigen eines Modellbaus würde helfen.
Natürlich kamen auch andere Ideen hinzu. In einem anderen Buch hatte er von einem Säulenwald gelesen, Ausdruck einer Künstlichen Intelligenz am Meeresgrund eines Eismondes. Dort war der Körper eines Astronauten verloren gegangen, sein Bewusstsein tauchte allerdings andernorts wieder auf und beteiligte sich an der Handlung Auch das war ein Szenario, die sein Interesse hervorrief: Pappe in kühlen Marmor mit unbekannten Schriftzeichen verwandeln; die Säulen mit Kommunikationsadern aus Hanffaden verbinden; zum Zentrum der K.I. vordringen und dort ein quadratisches Podest mit einer Art Baldachin versehen. Auch dieser Raum wäre reizvoll, um ihn nachzubauen.
Auf einmal schien sich in fast jedem seiner Lektüren ein Vorhaben zu verbergen, das es umzusetzen galt: Fluide Kommandozentralen, sphärische Gefängnisse umgeben von Vakuum, undurchdringliche Wälder, die Menschen nach dem Betreten verschluckten und nicht mehr hergaben. Jede Fiktion schien ihm ein räumliches Modell abzuverlangen, das er weiterentwickeln und zu einem guten Ende bringen sollte. Er wollte Welten bauen, ein Demiurg neuen Zuschnitts werden, Partner all jener Autor*innen, die unerschütterlich vor sich hin phantasierten.
Wirklich zu begeistern vermochte ihn aber nur die Enklave auf den Dächern. Mit etwas musste man ja beginnen. G. würde die Idee der Autorin weiterentwickeln, sich mit dem halluzinierten Raum verbinden, den sie erschaffen hatte. Seine selbstgewählte Rolle als Fiktionaut nahm er ernst. Die Charaktere würden ihre Heimat bekommen, die Zukunft ein Gesicht. Wenn jemand etwas mit Hingabe zu schreiben vermochte, so überlegte er, musste das Ergebnis doch einen Grad an Wahrheit besitzen. Wenn es Wahrheit in sich trug, konnte es auch Wirklichkeit werden. Wirklichkeit war ohnehin immer fragwürdig. Es galt, sie zu erfinden. Was genau mochte sich die Autorin vorgestellt haben, als sie den Roman auf den Dächern Berlin begann? Was wurde erzählt, was blieb ungesagt? Wo begann der kreative Freiraum für den Demiurgen? Was würde er gestalten dürfen, ohne sich zu weit von der Vorlage zu entfernen?
Er beschloss, sich seiner Arbeit der gebotenen Ernsthaftigkeit eines künstlerisch begabten Menschen zu widmen. Kunst war Wahrheit und besass Wichtigkeit, redete er sich ein. Details waren nicht wichtig, es zählte allein der Entwurf. Ein Modell wäre eigentlich schnell zu erledigen, so, als würde ein Maler mit wenigen Pinselstrichen eine Welt erkennbar andeuten, redete er sich ein. So feuerte er sich an. Er hoffe, J. würde ihn nicht fragen, warum er an dieser schiefen, bunten, ja kindlich wirkenden Stadt aus Pappe arbeitete. G. hätte nur schwer erklären können, was ihn antrieb. Sie würde ihn nicht verstehen. Er käme sich wie ein Kind vor, das dem Anspruch von Erwachsenen nicht genügte. Wie ein verrückt gewordener alter Mann. Doch jeder hatte seinen Traum.
Da war natürlich die Sache mit dem Masstab. Phantasie, so war er überzeugt, durfte nicht in Phantasterei entgleiten. Phantasie musste real werden, sich an den Gesetzen dieser Welt messen lassen. Er hatte deshalb, um für das Fundament Mass zu nehmen, ein kleines Männchen aus zusammengerolltem Papier erschaffen. Alles hing von seiner Grösse ab: die Höhe der Bauten, die Masse des Waldes, die Tiefe des darin befindlichen Tümpels. Man sollte sich zurecht finden auf dieser postapokalyptischen Plattform. Das Männchen war das Mass der Welt. Er gab ihm seinen Namen: G.
Vier
Mehrere Wochen verbrachte er schon mit seinem Projekt. Die Konstruktion hielt ihn im Bann. Er nahm sich ernst, er nahm seine Siedlung ernst. Mehrmals produzierte Papierskizzen erwiesen sich als unbrauchbar, die Pappe tat nicht, was für sie bestimmt war. Sie folgte ihre eigenen Gesetzen, mit denen G. Noch nicht vertraut war. Doch die Zeit drängte. G. Entschloss sich, intuitiv zu bauen. Doch die Lösung einer Frage führte zur nächsten. Wie konnte man Dächer elegant verbinden? Wie eine Konstruktion finden, die Zugänge ermöglichte und Plattformen Platz bot. Was erschien statisch einsichtig und war elegant zugleich? Was gab die Pappe wirklich her? Musste zusätzliches Material aufgeboten werden: Stückchen, Papier, Bäumchen aus Kunststoff? Was sollte er bemalen und was roh wirken lassen? Und wohin mit dem immer grösser werdenden Modell?
Er war Architekt, Baumeister und Nutzer der ersten Gebäude, die auf der immer grüner werdenden Grundfläche entstand. Es störte ihn, das er sein Modell nicht betreten konnte. Sechs Personen sollten darin wohnen, so sah es zumindest der Roman vor. Zwei Personen müssten in dem hermetisch nach aussen abgeschlossenen Labor arbeiten. Lange dachte er darüber nach, welche Annehmlichkeiten unerlässlich, angemessen oder überflüssig waren. Es war nicht nur die Frage, was er an Material zur Verfügung hatte. Es war die Frage, welche Materialien er abbilden konnte, welche in einer dystopischen Stadt überhaupt verfügbar seien konnte. Was benötigte man dort nicht mehr, was lag frei herum, was konnte gestohlen werden, wenn eine Stadt zugrunde ging? Wie war es Möglich, die Baustoffe in die oberste Etage eines Hauses zu verbringen? Man durfte wohl annehmen, dass keine Kräne zur Verfügung standen. Der Bau musste mit Menschenkraft bewältigt werden. Die Materialien würden knapp sein in einer Mangelwirtschaft, in der sich alle schamlos bedienten, um ihre dringendsten Bedürfnisse zu stillen.
Wie ein Kind hielt er dann das Männchen zwischen Daumen und Zeigefinger und liess es auf dem Grundriss tanzen. Was früher nur ein provisorischer Gegenstand gewesen war, wurde zum Abbild eines Menschen: Beine, Körper, Kopf und Arme, Individualität, Unterscheidbarkeit. Er bemalte es, verordnete ihm Kleidung. Er sprach mit sich selbst, er sprach zu seinem Geschöpf. Beide wuchsen zusammen. Auch musste man alle zukünftigen Bewohner*innen der Siedlung über ihre Bedürfnisse befragen. Bald hatte er sieben kleine Figuren zur Verfügung, mit denen er umzugehen wusste wie mit zukünftigen Mietern. Es waren, so gut er es auch nur erlesen und fantasieren konnte, die Hauptcharaktere des Romans. G. war einer von ihnen. Er wählte für sich den Charakter des Computer-Nerds, eines Hackers, der sich kaum aus seinem Labor bewegte aus Angst, aufgespürt zu werden. Zum paranoiden Genie entwickelte er sich, der seine Gefährt*innen mit all dem Wissen versorgte, das sie zum Überleben benötigten. Ein Sonderling, aber trotzdem nützlich für Alle.
Es liess sich nicht vermeiden, dass er manchmal Details nachschlagen musste. Verstreut in den 500 Seiten des Buches fanden sich immer wieder Hinweise über die Siedlung auf den Dächern. Angebracht wäre es auch gewesen, das Buch nochmals, gründlich, und mit dem Anbringen von Randnotizen zu lesen. Das war, zu seinem Bedauern, mit der benötigten Konzentration nur unten im Schlafzimmer möglich. Derart waren seine Gewohnheiten an die Räumlichkeiten ihrer gemeinsamen Wohnung gekoppelt, dass er sich leichtfertig von ihnen zu lösen vermocht hätte. Er musste also einen Kompromiss finden, einen nächsten Schritt in seinem Leben machen. Ausserdem bereitete ihn der Abstieg in die Niederungen der Realität immer mehr Missbehagen. Man wusste nie, was einem dort an Anforderungen erwartete. Die Ansprüche des Alltags, die J. mit unerbittlich vertrat, waren ihm mit der Zeit ungeheuerlich geworden, hatten mehr an seiner Lebenszeit verschlungen, als er herzugeben bereit war. Das Inferno seines Alters war grösser geworden, die Bedrohungen, die unten auf ihn warteten, nicht unerheblich. Geldmangel, Krankheit, bürokratische Unzumutbarkeiten, Streit, Frechheiten der Nachbarn: alles war zu erwarten. Nichts versprach die Sicherheit, die er so nötig brauchte.
Fünf
G. beschloss, die unteren Räume nur mehr in Notfällen zu betreten. Lesen konnte er ja auch im Bett in seinem Büro. Daran würde er sich gewöhnen. Auch ein kleines Badezimmer gab es im Dachgeschoss, das müsste für seine Bedürfnisse genügen. Vielleicht wäre J. Ja auch so entgegenkommend, ihm in den nächsten Wochen Frühstuck und Abendessen vor die Tür zu stellen. Vermissen würde sie ihn ohnehin nicht. Sie war in letzter Zeit immer einsilbiger geworden und sprach kaum mehr mit ihm. Sie kapselte sich ein in die Geräuschkulisse ihrer Kopfhörer, die sie kaum mehr abnahm. Er verfolgte seine kruden Pläne. Es schien eine der vielen Lasten des Alters zu sein, dass man verstummte, einfach, weil man nichts mehr zu sagen hatte und in sich selbst versank.
Vor seinem Fenster bestand die Welt nur mehr aus Nebel und Stille. Es war November geworden. Das Draussen war erstarrt, statisch, ohne nennenswerte Bewegung. Nur die üblichen Störenfriede der Grundstückspfleger wüteten mit Laubbläsern und fegten alles was leicht und lebendig war, in den Müll der dörflicher Neurose. G. überlegte: Einen Zugang zum Dach des benachbarten Wintergartens von seinem Fenster könnte immerhin möglich sein. Er musste sich nicht auf ein Modell beschränken müssen. Was denkbar war, war auch möglich. Die Neigung der beiden Dächer war nicht so stark, dass man nicht darauf stehen konnte, um für die Verankerung des Steges zu sorgen. Dort, an der Hausmauer könnte man dann im rechten Winkel die erste Plattform aufsetzen. Er nickte sich zu. Wahrscheinlich wäre er der erste in seiner Gemeinde, der die Idee vom Lebens auf den Dächern vorgeschlagen würde.
Die Aufgabe nahm ihn nun völlig in Beschlag. Nächtelang, bis in die Morgenstunden arbeitete er daran, die Siedlung zu komplettieren. Er begann zunehmend mit den Resultaten seiner Arbeit zufrieden zu sein. Eines Tages feierte er so etwas wie ein Richtfest. Es war ihm gelungen, alle Gebäude in ihren Grundelementen auf einem Netz von Übergängen, Plattformen Stützen und Streben zu errichten. Alles war säuberlich verklebt, grundiert und gestrichen. Das Zimmer ein Chaos, überall Klebereste, Reste von Wellpappe, Farbspritzer. In seinem Tagebuch waren fein säuberlich die erledigten Arbeitsschritte aufgelistet. Längst waren ihm Tag und Nacht Eins, sie unterschieden sich nur durch die Helligkeit, die durch das Mansardenfenster sickerte. Eines Tages setzte er sich an seinen Computer, um die Autorin des Buches von der Vollendung ihrer Welt zu informieren. Er hoffe, sie wäre zufrieden damit. Vielleicht könnte er sie auch für ein neues Projekt gewinnen, dass in der Kühnheit seiner Überlegungen ausserordentlich war. Es würde die Welt um ihn grundlegend verändern.
Sechs
Das Fenster hielt er nun auch tagsüber immer geöffnet. Das neue Projekt erforderte ausreichend Platz. Manchmal ragten die stramm montierten Pappverstrebungen weit aus dem Fenster der Mansarde. Auch die Verankerungen für die schmale Gangway an Fensterrahmen und Fensterbrett erforderten Zugänglichkeit. Das Fenster blieb meist offen, auch damit er die Verankerungen seiner Aussenkonstruktion ordentlich am Rahmen befestigen konnte. Klamm hingen die Verklebte Konstruktion hinaus ins Freie.
Die Nässe des Novembers kroch in den Raum. Er war froh, dass die Bewohner*innen seiner ersten Siedlung ihre Hilfe angeboten hatten. Er war ein alter Mann und sie waren ihm wohl Hilfe schuldig. Mit ihnen sprach er oft und er konnte auf ihre Ratschläge zählen. In Reih und Glied standen sie auf dem Tisch und lauschten seinen Ausführungen. Leider hatte sich die hochverehrte Autorin auf seine Vorschläge nicht gemeldet. Das enttäuschte G., führte das aber auf die Konzentrationsschwäche und mangelnde Ernsthaftigkeit der Jugend zurück. Er verzieh ihr: sie war wohl mit dem nächsten Roman beschäftigt. Sie würde aber letztendlich staunen, was er hier zustande brachte.
G. hatte allmählich ein Problem mit den grossen Verbrauch an Pappe. In den nächsten Tagen würde es wieder die Fahrt in den Supermarkt erfordern, der immer Kartons in bester Qualität für ihn bereithielt. Mehrmals pro Woche musste er seine Mitbewohnerin bitten, ihn mit dem Auto dorthin zu fahren. J. würde wahrscheinlich wieder die Augen verdrehen, wenn er das Auto mit den ungefilterten Kartons voll stopfte. Im Supermarkt hatte er inzwischen eine fragwürdige Berühmtheit erlangt, so gross war seine Gier nach den zwei- und dreiwelligen Pappe bester Qualität. Manchmal kam man ihm entgegen und zerlegte die Kartons für ihn. J. schämte sich wohl ein wenig für G.: vielleicht war das eine der wenigen Gefühlsregungen, die sie noch für ihn aufbringen konnte.
Sieben
Heute war wieder ein windige und verregneter Tag. J. War wie immer früh aufgestanden und hatte die Wohnküche aufgeräumt. Seufzend bereitete sie Butterbrot und Kaffee zu und stellte es auf das Servierbrett, Einen handbeschriebenen Zettel legte sie dazu. „Du wolltest heute die Türschnalle reparieren!“ Sie wusste, er würde darauf nicht reagieren, aber immerhin hatte sie ihm ein schlechtes Gewissen gemacht. Ächzend und ein wenig aus dem Gleichgewicht kommend, stieg sie die Treppe hinauf, stellte das Tablett ab und klopfte an der Tür. Drinnen war es still. Normalerweise hörte sie ihn vor sich hin murmeln. Durch den Türspalt sah sie, dass das Licht noch immer brannte. Es war still, nur das Fenster hörte sie gegen den Rahmen schlagen.
Was für ein Idiot, murmelte sie und stieg nach mehrmaligen Rufen und Klopfen resigniert die Treppen hinunter. Sie beschloss, als Nächstes die Terrasse zu fegen. Es war schliesslich Herbst, überall Blätter, und auch das Moos, das es vom Dach gefegt hatte.