046 Taschendieb sein, oder wenigstens Voyeur!

Haben Sie schon jemals in ihrem Leben die Lust verspürt, einen Ladendiebstahl zu begehen? Haben sie gar einen ohne zwingende Notwendigkeit begangen? Oder haben Sie die Taschendiebe gehasst, die Sie mit Chuzpe bestohlen haben aber sie doch insgeheim bewundert, weil es ihnen so mühelos gelungen ist?

Fall 1: Erregt sitzt der Erzähler von Stefan Zweigs Erzählung “Unvermutete Bekanntschaft mit einem Handwerk” (1931) in einem Café an einem Pariser Boulevard. Er verweilt inmitten des Trubels vorüberziehender Menschen, angespannt, alle minutiös beobachtend. Dann plötzlich, mit der Unbekümmertheit eines Müssiggängers, geniesst er, selbst unbemerkt, das Treiben eines Taschendiebs, bewundert seine Kunstfertigkeit, fiebert mit ihm, fürchtet, so wie sein Opfer, das Erscheinen der Polizei, die dem Treiben ein Ende bereiten könnte. Die Erzählung ist in all ihrer Präzision und Ausführlichkeit eine fast quälend vergnügliche Beobachtung und Übung in literarischem Voyeurismus: Sitzen, beobachten, mitfiebern und dabei viel erregte Augenlust. Doch letzten Endes wird aus dem Beobachter ein Akteur, aus dem Voyeur ein Involvierter. Das Spiel bricht in sich zusammen, die Nähe zum Objekt wird untragbar.

Fall 2: Ähnlich ausgeprägt ist die Darstellung des Voyeurismus in Robert Bressons filmischen Meisterwerk “Pickpocket” aus dem Jahr 1959, aber mit deutlicher Akzentverschiebung. Roger Ebert verweist in seiner Interpretation auf den Zusammenhang von Narzismus, Voyeurismus und Sexualität im Verhalten des beobachteten Taschendiebs:

He gathers his narcissism around himself like a blanket. He sits in his garret and reads his books, and treasures an image of himself as a man so special that he is privileged to steal from others. Also, of course, he gets an erotic charge out of stealing.

Dies sind Beobachtungen, die mir während des Ansehens von Bressots Film zunächst gar nicht aufgefallen waren; weil eben ich als Zuseher dieser Voyeur war, der dem Ballett der gezeigten Taschendiebe folgen durfte; weil ich mich offenbar im Narzissmus des Hauptdarstellers wiedererkannte und weil es so erregend war, ihn in seiner linkischen Überheblichkeit zu begleiten. Das zu erkennen, beschämte mich sehr. Ich erinnere mich an die Ladendiebstähle meiner Kindheit und an die Angst vor dem Entdeckt – Werden. Wie doch die Lust am Diebstahl meine Sinne überreizten!

Fall 3: Dann der chinesische Film Pickpocket von Jia Zhangke aus dem Jahr 1997. Auch er begleitet einen Taschendieb auf seiner Irrfahrt durch die Stadt, belässt den Anti-Helden aber fast in der Normalität eines interesselosen Jugendlichen. Kein geniesserische Beobachtung seiner Künste, nur spärliche Andeutungen. Im Gegenteil, der Dieb zeichnet sich durch verantwortungsvolles Handeln aus. Die Ausweise seiner Opfer wirft er in den Postkasten der nächsten Polizeistation. Ein guter Krimineller, auf der Suche nach Läuterung von seinen Taten an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Doch dann wird er auf frischer Tat ertappt und der Polizei übergeben. Vorbei ist es mit seiner Anonymität, seiner klandestinen Tätigkeit. Vom Polizeichef des Distrikts mit Handschellen an einen Mast gekettet, ist er den beschämenden Blicken und der Zudringlichkeit der Passanten preisgegeben. Der Albtraum eines jeden Taschendiebs: mittelalterlich anmutende Zurschaustellung! Öffentliche Demütigung. Das ist das Ende einer Existenz.

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