073 Figurenkabinett 06: Biostras
Der Begriff Biostras bezeichnet die Gruppe der Astrobiologen, die auf einem der in meinem Roman genannten Raumschiffe reisen, vielleicht zwei bis drei Personen. Einerseits bedienen sie die Terrasphärenkammer des Raumschiffs, um die Passagiere auf ihren langen Reisen Gelegenheit zur Orientierung in ihrem Menschsein zu geben.
Denn das Leben und Wachsen und sich Verändern von Natur ausserhalb des Menschen ist Teil seiner Menschlichkeit und seiner Identität. Das schien, zumindest zu Beginn, einer der Glaubenssätze von Earthseed zu sein. Dadurch, dass die Asche der Urmutter Laura Olamina auf einem der Raumschiffe mitgeführt wird, erhält diese Hypothese auch eine zusätzliche, fast religiös verbrämte Bedeutung. Laut Testament wurde sie im Biotop des Raumschiffes verbracht, um die “neue Saat” pflanzen: “Heilige Erde, heilige Pflanzen!”. Originalzitat:
I will go with the first ship to leave after my death. If I thought I could survive as something other than a burden, I would go on this one, alive. No matter. Let them someday use my ashes to fertilize their crops. Let them do that. It's arranged. I'll go and they will give me to their orchards and their groves. (S.833)
Werden jene Pflanzen verzehrt, die ursprünglich mit der Asche der Grossen Mutter gepflanzt wurden, so nimmt man auch den Geist der Schriften und den Geist der Seherin in sich auf. Damit wird der Verzehr von derart verzehrten Pflanzen zum Heiligen Akt, zur Affirmation von Earthseed auf einer spirituellenn Ebene.
So werden die Astrobiologen zu Hohepriester:innen von Earthseed. Sie werden zum Bestandteil einer säkularisierten Religion und ersetzen mit ihrer Ideologie den Nutzeffekt von Natur für Erholung und Entspannung durch naturreligiöser Aufladung. Die terrestrische Natur darf nicht sterben, auch wenn sie im Weltraum keine Chance auf eine Fortführung in ihren ursprünglichen Charakteristik hat. Denn wenn die terrestrische Natur stirbt, stirbt auch ein Teil der sozialen Natur des Menschen. Und was könnte sie dann ersetzen? Eng verknüpft sich dieser Glaube mit dem Ritual, das mit der Bewimperten Blutsphäre tradiert wird. Damit wird auch der Schöpfer dieser Hybridpflanze in die Handlung eingeführt. Sein Name ist Aleks Sajdar.
Die Aufgabe der Biostras besteht zunächst darin, für das Überleben bestimmter Pflanzen und Tiergattungen im Raumschiff zu sorgen und bestimmte Gemüse- und Obstsorten anzupflanzen. Dafür sind sie einem strengen Regelwerk verpflichtet. Andrerseits sind sie auch für die Erforschung von Leben im Weltraum und hier vor allem auf Exoplaneten zuständig. Der Status der Biostras ist heilig, ihr Überleben auf der langen Reise nach dem des Kapitäns und der Offiziere ist deshalb von höchster Priorität. Sie sind quasi unantastbar und müssen sich während des gesamten Raumflüges beim Monitoring der Prozesse in der Terrasphärenkammer abwechseln. Das bedeutet, dass sie am Ende der Reise im Vergleich zur restlichen Besatzung deutlich gealtert sind. Einige von ihnen opfern so durch ihr häufiges Wachsein und ihre Sorge für die Pflanzenwelt ihr Leben.
Noch eine andere Idee, zur Bedeutung der Biologie natürlich. Sie wird im engeren Sinn mit dem Earthseed Keyword “Change” verknüpft. Die Biologie und damit die Astrobiologie ist deutlichster Ausdruck des dem Leben zugrundeliegenden Wandels und liefert dazu alle wissenschaftlichen Begründungen. Sie ist eines der wichtigsten Referenzsysteme des Wandels. Und weil der biologische Wandel unabwendbar ist, wird er zu Gott, daher auch die Verehrung der Biontas, die alle mit dem Wandel verbundenen Fragen zu lösen imstande sind.
Wie aber die Biontas in einen spannenden Handelsstrang einbinden? Das geschieht wohl am besten auf jenem Raumschiff, das die Erde als drittes verlassen hat und schliesslich als das Pionierraumschiff von Earthseed gefeiert wird. Ihnen könnte auch die Verantwortung über die Untersuchung der durch die Kryostase getöteten und geschädigten Passagiere überantwortet werden. Ihre gescheiterte Verantwortung und ein misslungenes Krisenmanagement machen sie psychologisch auf eine sehr einfache Weise zu Komplizen des betrügerischen Kapitäns und zu Gegnern der Chronisten. Es findet dabei eine allgemeine Umkehrung der Positionen von Faktizität und Fiktionalität statt. Indem die Bionistas die Betrugsbemühungen des Kapitäns unterstützen und damit zu Leugner:innen und Verschleier:innen der Wahrheit werden, nehmen sie Positionen diametral zu denen der Chronisten ein, die von den Fakten zu berichten haben, in fiktionaler Weise jedoch und dem Wissensstand der erwachenden Reisenden Rechnung tragend. In einem Satz zusammengefasst kann das daraus resultierende Paradoxon auf folgende Weise beschrieben werden: Die Fiktion begründet Wahrheit, weil sie dem Menschen verpflichtet ist; die Faktizität verkehrt sich durch ihre Lückenhaftigkeit in Ideologie und letzthin in Lüge.
Mit den Biostras wird auch das Mykorhizom eingeführt, ein Inventar der im Weltraum vorgefundenen biologischen Entitäten. Beim Zeichnen an diesem Projekt entstehen Ideen zu diesen neuen Geschöpfen, die niedergeschrieben werden: eine neue Realität wird geschaffen. In einem nächsten Schritt werden diese Pflanzen, ihre Beschreibung und ihre Relevanz für die Handlung in Allaine verortet werden. Sie sind ein wichtiger Teil des “Weltenbaus” geworden, konstituieren die neue Wirklichkeit des Romans. Bildnerische Gestaltung und erzählerische Arbeit fliessen so ineinander und befruchten sich gegenseitig.