056 Unruhe – NaNoWriMo22, Tag 2
Ich nehme am nonawrimo22 teil und schreibe neben meinem Romanprojekt an einem begleitenden Tagebuch. Hier mein tägliches Resumee:
Hat einmal die Unruhe in einem Tag Platz genommen, dann lässt sie kaum Zeit für Anderes. An diesem zweiten Tag des Schreibabenteuers hat mich dieses unangenehme Gefühl zum Gefangenen gemacht. Schon beim Erwachen der Gedanken an das, was an diesem Tag vor mir liegt: Walk the Dog, Arztbesuch, Fahrt zurück nach Hause. Dann die schon lange geplante Fahrt zur Kartause Ittingen, in der eine Ausstellung und eine Filmvorführung besucht werden soll. Fahrt nach Hause, Abendessen.
Dazwischen Mahlzeiten und knappe Stunden, in denen ich die Arbeit an meinem Roman wieder aufnehmen will. Ist das tatsächlich ausreichend Zeit um gewissenhaft und sorgfältig schreiben zu können? Das Pensum: wie jeden Tag 2300 Wörter. Nicht allzu viel erscheint es mir, doch das gilt nur dann, wenn man sich in gutem Fluss befindet, wenn die Wortfiguren sich hervorbringen lassen an Gedanken, die schon längere Zeit gepflegt wurden. Zwischen den Zeilen Recherchieren, Strukturen entwickeln, Querverbindungen schaffen? Das ist nicht möglich. Der Karren bleibt im Schlamm stecken, die Räder drehen sich im Dreck, die Achsen ächzen unter der Belastung. Keine Pferde ziehen diesen Karren aus dem selbstverschuldeten Schlamassel.
Wäre es aber nur um die dürftigen Schreibgelegenheiten gegangen, nun, dann wäre alles gut gewesen. Die Erfüllung des selbstverfügten Pensums wäre auch angesichts der knappen Schreibzeit möglich gewesen. Jedoch, “mit einem Arsch auf zwei Kirtagen zu tanzen?” Das lässt sich kaum erfüllen. Zwei Kirtage also.
Im Kloster Ittingen haben mich dort gemachten Beobachtungen sofort mit Beschlag belegt, weit über die Besuchszeit hinaus. Bilder aus der Frühzeit der Fotografie, die Insassen von “Irrenhäusern” zeigen: aggressive, verstörte, einsam wirkende Gesichter von Männern und Frauen, denen man ansieht mit welchem Widerwillen sie sich haben vorführen lassen. Eine Frau im Nachthemd bedeckt ihr Gesicht mit dem Leintuch. Zu zudringlich das Auge der Kamera.
In einem anderen Raum des Kunstmuseums Thurgau der Film “Das Narrenschiff” von Javier Téllez. Ein Boot, mit uns als mittelalterliche Narren gekleidet, fährt in die Weite des silbergrauen Sees hinaus. Folgende Worte fallen in einem still vorgetragenen Lied:
Wir bauen uns eine neue Welt, das Alte ist vergangen, In uns da brennt ein Feuer heiss, unendliches Verlangen. Gemeinsam, auf Gedeih und Verderb, wer rettet wen?
Diese musealen Beobachtungen, die sofort zu sehr existentiellen Erfahrungen geworden sind, lassen sich nicht abschalten, ist man einmal zu Hause. Nun hätte man zwar Zeit für sein ausständiges Schreibpensum. Aber der Fortschritt im eigenen Roman und die Vorgaben des nanowrimo22 sind mit einem Male nebensächlich geworden.
Aber was dann schreiben? Über das Motiv des Narrenschiffs und dessen Implikationen für unsere verfahrenen Zeit? Über die Augenlust in der Psychiatrie und den medialen Bilderrausch der Gegenwart? Oder dann doch das ehrwürdige Pensum abarbeiten?
Nun, die Arbeit ging dann letzten Endes doch überraschend flüssig vonstatten. So recht bei der Sache war ich aber wohl nicht. Gottseidank gibt es dieses Reflexionsjournal.