042 Variationen zum Fensterkucker
Ein Feuerwerk des Gehirns, der Emotionen und der Erinnerungen.
Es begann damit, dass ich auf das Fenster einer lehmverschmierten Holzhütte blickte. Sie stand im Pfahlbaudorf in Unteruhldingen am Bodensee. Mich hatte daran begeistert, wie man dünne Tierhaut (geschabt, gespannt und getrocknet) über dem Fensterrahmen aus Holz befestigt hatte. Steinzeitliches Glas! Die Haut war lichtdurchlässig und winddicht und das Fenster eine Sensation! Ein Foto davon wollte ich auf Mastodon posten und dachte deshalb über einen griffigen Titel nach: “Der Fensterkucker?” Da begannen Erinnerungen wach zu werden.
In den Sechziger Jahren hatte man im österreichischen Fernsehen die Serie “Der Fensterkucker” ins Leben gerufen, eine Sendung, die nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges die Selbstfindung Österreichs in der Zweiten Republik unterstützen sollte. In launigem Tonfall sollten das “Inventar” einer Nation seinen Bürgern nahegebracht werden. Eine Sendung mit Bildungsauftrag also, welche von Porträts über österreichische Bauwerke, Städte, Landschaften und das ÖsterreicherIn-Sein räsonierte. Das wuchs sich manchmal sogar zu essayistischen Filmen aus, die so schlecht nicht waren. Kritik an den Zuständen war natürlich verpönt und die Autorität des mit sonorer Stimme sich präsentierenden Erzählers blieb stets unangefochten. So ging man damals mit den Bürgern gerne um: launig aber mit unanfechtbaren Wahrheiten, die zu akzeptieren waren. Um den staatspolitischen Auftrag der Sendung besonders zu unterstreichen, wurde im Vorspann die Steinbüste von Meister Pilgram, einem der Baumeister der Wiener Stephanskirche gezeigt, begleitet von einem sehr erbaulichen Adagio eines Komponisten aus dem Barock namens Pietro Nardini. Die Wirkung war imposant und legte sich in mein Gedächtnis wie eine Arabeske.
Ich sass vor dem Schwarz-Weiss-Fernseher meiner Grossmutter, der durch eine Erbschaft finanziert worden war und war hin und weg. Das war meine erste Begegnung mit klassischer Kunst, Musik, mit Kultur überhaupt, die so unerhört wichtig erschien, wurde sie doch so gewichtig und feierlich vorgetragen, im Tonfall einer Veranstaltung am Nationalfeiertag. Noch heute fühle ich beim Anhören des Stückes von Nardini eine Gänsehaut über meine Arme laufen: sie ist noch immer Erbauung genug!
So viel staatsbürgerlicher Würde! Konnte sie langfristig bei mir Wirkung zeigen? Mitnichten!
Denn die Sechzigerjahre meiner Kindheit waren nicht nur ein Hort konservativer Restauration, sondern auch eine Zeit des heftigen Protests dagegen. Und es gab andere Fensterkucker, die das Leben der Heranwachsenden viel mehr beeinflussten. Ein Kurzfilm des Wiener Enfant Terrible, Kurt Kren, aus dem Jahr 1962 mit dem Titel 5/62 Fensterkucker, Abfall etc. zerhackt die Bilder von Wiener Voyeuren beiderlei Geschlechts in unbarmherzigen Schnitten, richtet das Objektiv dann auf die Hände von Passanten, um dann im herumliegenden Müll zu sondieren. Der Fensterkucker stürzt also von der Höhe der Kultur eines Landes in die Niederungen von Voyeurismus und Niedertracht.