041 Entblössung im Autofiktionalen
Annie Ernaux' Super 8 Tagebücher der Jahre 1972 – 1981
Wer je einen Film des us-amerikanischen Regisseurs Chris Marker gesehen hat, weiss, was einen Filmessay auf höchstem Niveau ausmacht: das ständige Kreisen von Kamera, Bild und der Kommentare aus dem Off um ein gesellschaftlich bedeutsames Thema, eine fast somnambule Gedankenbewegung, die uns mitnimmt in das Träumen von Bedeutsamem. Davon können wir aber diesmal leider nicht sprechen.
Die Rede ist vielmehr davon, wie selbst eine kluge Kommentierung von Super 8 Aufnahmen der eigenen Familie nur mittelmässige Filme zu produzieren vermag, selbst wenn diese von einer frisch gebackenen Literatur – Nobelpreisträgerin stammen. Die Rede ist von Annie Ernaux' Super 8 – Tagebüchern, eine sechzig Minuten dauernde Filmcollage aus dem Jahr 2022, die Familienaufnahmen von 1972 bis 1981 zum Inhalt hat. Diese kommentiert die Autorin und Mutter der Familie mit vornehm zurückhaltender Distanz. Ein Kunstwerk ist dieser Film deshalb noch lange nicht.
Wahrscheinlich ist dieser Film auch nur erwähnenswert, weil er uns das Leben einer Nobelpreisträgerin auf intime Art näher bringen will: das Privatleben wohlgemerkt, nicht die literarischen Nöte und Freuden einer Autorin, die unentwegt Autofiktionales geschrieben hat und für diese literarische Selbstbespiegelung nun geehrt wird. Wenn es also schon Autofiktionales sein muss, quasi als Honneurs an diese in Narzissmus befangene Gegenwart, warum nicht über den literarischen Schaffensprozess sprechen, der vom eigenen Familienleben so unliebsam gestört wird? Nein, es ist diese gnadenlose Selbstausbeutung seiner eigenen Privatsphäre, die das Publikum so liebt, weil es gerne den Anderen vorgeführt bekommt als Subjekt von Emotion und Krise.
Im gegenständlichen Film wird die Zeigefreudigkeit und Selbstentblödung einer Autorin sogar noch verführerischer, liefert diese das Augenmaterial doch gleich mit, das in der Privatheit ihrer Familie entstanden ist. So kommen Bild, Ton und Schrift doch kongenial zusammen zur lüsternen Erbauung. Wie weit will Annie Ernaux denn noch gehen, denkt man und macht sich fast Sorgen um die Privatsphäre dieser über achtzig jährigen alten Frau. Wird sie uns auch noch einen Roman über ihre eigene Vergänglichkeit liefern, nachdem sie uns jetzt ihre Jugend, den Ehemann, die Mutter und ihre beiden Söhne auf dem Präsentierteller serviert hat?
Wo aber kann denn Autofiktionales seine Wirkung abseits von Voyeuristischem entfalten? Vielleicht dort, wo sich Privates und Politisches treffen, wo die eigene Lebensgeschichte die Widersprüche zu erkennen glaubt, die das Individuum in seinem Leben erfährt? Aber auch diese Chance vergibt dieser Film, erwähnt er doch nur das an Politischem, dem wir damals auch selbst begegnet sind, ohne es zu durchdenken: Den Verlust der Natur, den Urlauben in Ländern mit Unrechtsregimen, die von den USA unterstützen Putschversuche von Diktatoren, die Grösse Russlands etc. Aber, das alles wissen wir doch schon! War das wirklich alles, was es darüber zu sagen gibt, was sie uns da aus dem Off geheimnisvoll mitteilt? Junge ZuseherInnen werden vielleicht in Wikipedia nachschlagen wollen oder die demokratischen Gemeinplätze ganz einfach übersehen. Das Politische verpufft bei Ernaux' Film im linksliberalen Gemeinplatz: so bleibt alles dem Privaten untergeordnet.
Am Ende des Filmes vermerkt die Autorin, dass ihr Mann nach der Trennung die gemeinsam angeschaffte Kamera mit sich genommen hat: nur Projektor und Filme verblieben bei ihr. Er hätte sie auf diese Weise zur Wächterin der Familienaufnahmen, der Familiengeschichte gemacht. Nun denn, wir wissen nun, in welcher Weise sie diese Aufgabe wahrgenommen hat.