038 Bestürzend unaufgeregte Mini-Essays
Im Dickicht der Begrifflichkeiten: Mini-Essay, Atomic Essay, Posting, Micro-Literatur u.v.a.m
Was ich in letzter Zeit gerne schreibe sind Mini-Essays von etwa 500 Worten zu Themen, die mich interessieren. Ich wähle die Wortbegrenzung, weil ich ein ausschweifender Erzähler bin und mir knappe Texte wohl besser erscheinen als barocke Ausschweifungen. Als ich vor Jahren vermehrt englische Texte schreiben musste, habe ich gelernt, wie man diese verschlanken muss, um sie lesbarer zu machen. Zumindest die vielen Füllwörter will ich vermeiden.
Also schreibe ich lustvoll darauf los, versuche die Wortvorgaben zu erfüllen, und gebe mich nach der Erstfassung hemmungslosen und oft schmerzhaften Streichungen hin. Meist werden die Texte dann besser. Ich wurde belehrt: Essays zwischen 250 und 500 Wörtern nennt man unaufgeregt Mini-Essays.
Jetzt bin ich im Internet einer scheinbar neuen Textsorte begegnet, den sgn. “Atomic Essays”. Sie werden definiert als Essays von maximal 250 Wörtern, die nach Editierung als Screenshots in Sozialen Medien veröffentlicht werden. Man schreibt sie, um Ideen zu skizzieren, für die man auf relativ schnelle Weise Rückmeldungen von seinen FollowerInnen lukrieren möchte. Ziel ist es, in der Folge auf ihrer Basis Blogbeiträge zu verfassen. Ausserdem wird versprochen, dass das häufige Schreiben derartiger Kurztexte Schreibblockaden überwinden hilft, die Gedanken fokussiert und ausserdem einen “Data Driven Writer” produziert. Wieder so ein Begriff, der wie frisch aus der Taufe der Grid – Coolness gehoben scheint. Nur, wer könnte überhaupt einen Essay schreiben, ohne vorher über sein Thema recherchiert zu haben? Fake, fake, fake schreit es mir entgegen. Schon allein der Begriff Atomic verheisst Episches, Grundlegendes, Substantielles und hat doch nichts anderes als einen verkürzten Mini-Essay zu bieten.
Atomic Essays und ihr kommerzieller Rahmen “Ship30for30” gehören also zu einem verheissungsvollen Geschäftsmodell, das vor allem dem Anbieter nützt, kaum jedoch den Kunden. Die Community der Atomic Essayists, wie sie uns aus der Suchmaschine entgegen quillt, ist verdonnert, unentwegt zu publizieren und dafür auch noch ihren Obulus zu entrichten. Aber wollen wir die vielen Klischees und Borniertheiten der Schreiberlinge überhaupt lesen? Ist es nicht lohnender, intelligenten Content zu suchen?
Die Sozialen Medien scheinen schuld daran zu sein, dass tonnenweise Texte produziert werden, die sich durch ihre Kürze wie der bekannte Kaiser ohne Kleider darstellen. Der Oberbegriff für diese digital veröffentlichte Textsorte will Micro-Literatur bzw. Micro-Poesie genannt sein, doch stellt sie leider die Frage nicht, was die Qualität von Literatur oder Poesie ausmacht. Auch fehlt das gestrenge (und professionelle) Lektorat, das manchmal erst lesbare Texte herstellt.
Bleiben wir deshalb lieber beim unscheinbaren und bescheidenen Begriff des Postings, eine Art Äusserung von Menschen, die zunächst keinen anderen Anspruch haben, als etwas in die Welt zu rufen. Ob das Sinn macht oder nicht, ob das literarische Qualität hat oder nicht, mag erst eine kritische Beurteilung erweisen. Wozu gibt es sie denn, die Literaturkritik?
Ich schreibe inzwischen weiter an meinen Mini-Essays, kostenfrei und ohne den Druck andauernder Entäusserung. Das dies uncool ist, dessen bin ich mir völlig bewusst.