036 Piet Mondrian: Beharrlichkeit als evolutionäre Tugend

Gedanken zur Ausstellung “Mondrian. Evolution.”, Foundation Beyeler, Riehen. (5. Juni bis 9.Oktober 2022)

Das alles berührt mich zutiefst: Geradlinigkeit, Abstraktion und ein lebenslanges Ringen darum. Die intellektuelle Suche von Piet Mondrian nach der Einfachheit der Wahrheit und ihrem künstlerischen Ausdruck überwältigt. Darauf legt es die Ausstellung wohl an. Ich sitze auf der breiten Holzbank an der Fensterfront von Saal 5. Flanierende Museumsbesucher durchkreuzen meinen Blick. Zu viele Besucher, aber wenig kann mein Beharren stören.

Die unterschiedlichen Versionen eines Bauernhofes bei Duivendrecht aus dem Jahr 1916 erscheinen mir wie ein verzweifeltes und wiederholtes Anlauf Nehmen im Bemühen um Klarheit. Vier gegenständliche Entwürfe des Gebäudes zeigen den Verlauf von Tag zu Nacht: fast sind es Kopien. Daneben hängt deren Abstraktion, die Composition No. 11 aus dem Jahr 1913. Ein zeitlicher Sprung findet statt, von der Abstraktion zurück zur Gegenständlichkeit, so als müsse man den Ansatz zur Wahrheit erneut finden. Für einen kurzen Moment kehrt sich der Schaffensprozess um. War es nur Selbstvergewisserung?

Ähnlich Verblüffendes finde ich bei den drei Bildern einer Windmühle aus dem Jahr 1917. Von ihnen berichtet der kleine Museumsführer, dass es scheint, als habe Mondrian die Beschränkung auf das Wesentliche so weit wie möglich ausloten wollen; gerade so weit, wie es die Gegenständlichkeit des Objektes noch erlaubt. Unterschiedliche und immer abstraktere Versionen einer Windmühle betrachte ich im Übergang vom Tag zur Nacht. Das letzte Bild ist eine fast vollendete Abstraktion, zeigt aber gleichzeitig die unheimlichen Szenerie einer Nacht. Ich erinnere Sterben und Tod. Ist die Wahrheit das Ende allen Strebens? Das Leben bewahrt uns mit grossem Aufwand davor.

Die Ausstellung erzählt von all diesen Geheimnissen, sublim verborgen hinter der Botschaft einer Reise zur abstrakten Malerei des 20. Jahrhunderts. Auch verweist die Ausstellung auf Mondrians Triptychon mit dem Namen “Evolution” aus dem Jahr 1911: drei nur minimal variierte Figuren, undefinierbar in ihrem Geschlecht. Sie repräsentieren eine Studie zur spirituellen Entwicklung des Menschen. Diese Vervielfachung einer Idee nimmt die Ausstellung immer wieder auf. Evolution heisst bei Mondrian, Erfahrungen zu machen, auf denen eine neue Stufe künstlerischer Entwicklung aufbauen kann. Seine Beharrlichkeit erscheint mir radikaler zu sein als so manch behauptete ästhetische Revolution. Was kann konsequenter sein als eine sich ins Unendliche fortsetzende Abstraktion, die aus der Sinnlichkeit des Lebens entspringt? Ich stehe lange vor einer seiner Rautenkonstruktionen.

Mondrian ist ein einsam und ernst Reisender, er arbeitet mit hochentwickelten künstlerischen Mitteln. Er ist konsequenter, als wir es jemals von uns wünschen wollten. Unbedingt vordringen will er zur “Reinen Realität” (“real purity”), von der er glaubt, dass sie nur durch die Ausgewogenheit zwischen Form und Farbe erreicht werden kann. Solch Bewegung erfordert Übung und Wiederholung. Ein Leben lang.

Mondrian an Hendricus Bremmer (1914):

Die Natur (oder das was ich sehe) inspiriert mich, gibt mir, genau so gut wie jedem Maler, die Ergriffenheit, die den Drang entstehen lässt, etwas zu schaffen, aber ich will der Wahrheit so nahe wie möglich kommen und darum alles abstrahieren, bis ich ans Fundament (immer noch ein äusseres Fundament !) der Dinge gelange.

Ich sitze auf einem der tiefen Sofas im Seitentrakt des Museums. Die Exklusivität und Noblesse des Raumes mit seiner eindrucksvollen Fensterfront erzeugen eine nahezu sakrale Stimmung, welche das Nachsinnen begleitet. Die Suche nach Wahrheit verdient Stille.

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