022 Über Grenzüberschreitungen 2

Wir haben aus der Erfahrung der jungen Regine in Ruth Blums Buch gelernt, wie politische Grenzen aufgeweicht werden können und: wie sie einerseits das Selbst begrenzen und andrerseits zu ihrer Überschreitung verleiten.

“Grenze” ist also sowohl Einschränkung als auch potentielle Freiheitserfahrung. Warum aber?

Ein Philosoph sieht das so:

Weil Grenzen als menschengemachte Konventionen nie absolut sind, sondern die Grenzüberschreitung immer möglich machen. Sie senden stets das Signal: Dahinter ist auch noch etwas, warum gehst du nicht auf die andere Seite? Grenzen reizen also die menschliche Neugier und den Trieb weiterzugehen, faustisch gesprochen: herauszufinden, was die Welt im Innersten zusammenhält. Dieses Verhalten beschreibt letztlich den Kern der menschlichen Entwicklung. Konrad Paul Liessmann in einem Interview mit brand eins

Das haben wir schon beobachtet, als das Mädchen Regina durch das Überschreiten der Grenze und Bertreten eines Landes im Krieg die Durchlässigkeit des von den Erwachsenen festgesetzten Status erfahren hat. Und tatsächlich ist die Grenzerfahrung ambivalent: das Mädchen begibt sich einerseits in Gefahr, als sie sich verirrt und auch noch von flüchtenden französischen Kriegsgefangenen an der “Grenze” bedroht wird. Und nun hat auch sie (symbolisch) zum ersten Mal den möglichen Tod erblickt, als sie dunkel gekleidete Frauen bei einem Begräbnis beobachtet. Aber sie erfährt auch, dass Grenzen überschritten werden können: die Möglichkeit ist da. Damit symbolisiert Ruth Blum geschickt, wie sich der Autonomiespielraum eines jungen Menschen erweitert, was jedoch immer auch ein Stück Gefährdung darstellt, eben entblösst zu sein vom Schutz durch Erwachsene und allein gestellt zu sein auf sich.

Wie unüberwindlich Grenzen gesetzt werden können zeigt Ursula K Le Guin in “The Dispossessed” gleich im ersten Kapitel. Entlang jenes Ortes, wo die Raumschiffe von ausserhalb landen, wurde eine Mauer gebaut, mehr der Wahrnehmung halber als der Absperrung wegen. Eigentlich könnte man diese leicht überwinden, doch keiner tut es, schon seit Generationen nicht. Neugier auf das Jenseitige gibt es schon, aber keinen Wunsch, sie zu überschreiten. Man beobachtet lieber, auf der Mauer sitzend wie in einem Theaterstück.

Nur der eine “Landesverräter” wird von einem Trupp Soldaten vom Heimatplaneten in ein Raumschiff verbracht: zur Reise in die andere Welt, in die er unter Polizeischutz und -gewalt emigriert. Aber damit ist er die grosse, skandalöse Ausnahme und erregt öffentlichen Unmut, ja Gewalt. Würde man von dem Techniken des Mordes und des Aufstands wissen, könnte man sie auch anwenden. Der Verräter droht das allgemeine Selbstverständnis zu untergraben. Aber Mann und Frau bleiben letztendlich in sich gefangen.

Und ein weiterer Aspekt der Grenze wird bei Le Guin angesprochen: je nachdem auf welcher Seite man sich befindet, sieht man unterschiedliche Dinge und beurteilt man sie anders. Ist das “Gefängnis”, die “Trostlosigkeit” immer jenseits der Mauer? Ist das Andere automatisch zum Unverständnis und zur Gegnerschaft verdammt?

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