006 Genius Loci

Über den unterstellten Zauber von Orten und deren schriftstellerische Durchdringung.

Manchmal, wenn ich mal wieder einen Artikel über einen speziellen Ort schreibe, der mich besonders beeindruckt, denke ich darüber nach, unter welche Überschrift ich diesen Artikel reihen sollte: Heimatkunde, Ortsgeschichte, Regionalgeschichte? Mehr noch, ich wundere mich darüber, warum ich soche Texte überhaupt schreibe und warum mich manche Orte so besonders anziehen. Mein Blog Mostindien ist voll von derartigen Eindrücken.

Ist es ein wie immer geartetes Interesse an Regionalgeschichte, das mich antreibt, ein Interesse an den gewöhnlichen Menschen in ihrem unaufregenden Leben? Eine Neugier an der Beschränktheit des Blicks, der Bedeutungslosigkeit des Seins?

In der Schweiz gibt es in vielen Orten das Unterfangen, der Gemeinde eine Chronik anzulegen, meist dicke, langweilig geschriebene Wälzer, die Ehrfurcht vor der Gewordenheit und Grösse einer ganz normalen Siedlung vermitteln soll, die wenig Kultur, dafür aber Geschichte besitzt. In diesen stöbere ich gerne und bleibe dann an völlig abstrusen Details hängen, möchte mehr darüber wissen, finde aber keine Quellen. Es gibt nur diese älteren Herren mit Schnauz, die Chronisten, die vor Bedeutsamkeit ihre Brust und Stimme aufschwellen lassen und nicht wissen was tun mit dem chronischen Stolz auf sich selbst. Sie eingehend zu befragen oder auch nur zu kontaktieren, ist mir zutiefst zuwider. Lieber lasse ich Verstand und Phantasie an meinem Gegenstand abarbeiten.

Aber warum das Interesse an der Geschichte, die sich unspektakulär in die der Region, ja des Landes einfügt. Dieser eine Ort, an dem ich nun seit mehr als zwei Jahren lebe, kniet weihevoll vor sich selbst nieder, wenn er auf seine (meist unreflektierte) Geschichte blickt. Scheinheilige Ehrfurcht vor ihr, denn nicht wirklich interessiert sie. Aber sie ist wie eine Bibel, mehr noch: wie eine Reliquie:

Eine Ausgabe liegt in der Bibliothek S. zum Anfassen und Bestaunen auf und kann je nach Verfügbarkeit ausgeliehen werden.

So vermerkt man auf der Website dieses Ortes. Und das Vorwort beginnt mit einem Standardsatz, den wir so schon so oft gelesen haben und wahrscheinlich belustigt den Kopf geschüttelt haben:

Landschaft und Klima gestalten den Menschen und dessen Kultur.

Das ist Geschichte, die Ehrfurcht vermitteln soll, die so tut, als ob sie objektiv und vom Schicksal verfügt wäre, nicht bloss eine Interpretation oder allerhöchstens die Annäherung an die Wahrheit. Wir verbeugen uns also mit Ehrfurcht vor dem Schicksal, der Landschaft und dem Klima, wenn wir von der Geschichte eines Ortes sprechen, nicht vor der Mühewaltung um Wahrheit.

Geht es mir bei meinen Artikeln vielleicht gar nicht so sehr um Geschichte als vielmehr um das Erzählen einer Geschichte? Will ich nicht eigentlich selbst etwas schaffen, als nur Chronist oder Heimatkundler zu sein? Ich finde die Antwort mit einem Male im Begriff des Genius loci, dem Geist, dem Spirit eines Ortes wieder:

In diesem Sinne ist der genius loci ein Konstrukt, in dem Wissen, Erinnerung, Wahrnehmung und Deutung als interpretative Leistung des menschlichen Geistes verschmelzen. Wikipedia: Genius Loci.

Und um das wird es wohl gehen, um die Erschaffung einer zweiten Welt, die mit der greifbaren underforschbaren in einem unmittelbaren Zusammenhang steht. Hier geht es um einen schöpferischen Akt und die Freude an dem neu Geschaffenen.

#GeniusLoci